2. Rachel weint um ihre Kinder
Verehrte Hörerinnen und Hörer, ein Bild geht mir nicht aus dem Kopf: das Bild eines kleinen Jungen, auf der Suche nach Deckung ängstlich an eine Wand gekauert, im Schutz des Vaters, Sekunden, bevor ihn die tödliche Kugel trifft inmitten der haßerfüllten Auseinandersetzungen im Nahen Osten.
Tagelang wird diese Szene im palästinensischen Fernsehen wiederholt, immer wieder, jede halbe Stunde, zur besten Fernsehzeit: ungewollt ein erschütterndes Dokument, daß selbst Vater und Mutter nicht Schutz bieten können in einer bedrohlichen, feindseligen Welt. Und Nacht für Nacht weinen die Kinder im Schlaf, die am nächsten Tag mit Steinen auf Israelis zielen.
Tage später wird die Welt fassungslos Zeuge der blindwütigen Lynchmorde an zwei wehrlosen Soldaten. Wer kann die Meute zurückhalten, die wutentbrannt nur noch den Haß und das Töten kennt, die Rache schreit und nach Martyrium dürstet? Wann wird endlich Friede einziehen, jener „Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade“, ausgerufen in eben jenem Landstrich vor 2000 Jahren?
Es ist müßig, einseitige Schuldzuweisungen zu machen. Das Sündenbekenntnis der einen wie der anderen Seite ist identisch: Ich provozierte, und ich ließ mich provozieren, und jede Reaktion treibt die Spirale der Gewalt und des Hasses voran. Und immer sind Wehrlose die Opfer, wie jener kleine Junge im Kugelhagel.
„Rachel weint um ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr“. In unseren Kirchen erinnert man heute an den Kindermord zu Betlehem, weil Herodes, der damals amtierende Herrscher, sich von einem neugeborenen Kind so bedroht fühlte, daß er gleich alle Kleinkinder in jener Gegend töten ließ. Wir beten für all die Kinder, die auch heute noch Opfer der Gewalt werden, nicht nur im Nahen Osten, auch bei uns,wo Kinder physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind, mißhandelt oder mißbraucht werden. Und wir trauern um alle, die nicht die Chance hatten, geboren zu werden und ihre Eltern zu sehen.
Was ist der Mensch? Je länger mir der kleine palästinensische Junge vor Augen steht, desto deutlicher sehe ich das Kind in der Krippe vor mir: damals, vor 2000 Jahren, wehrlos und schutzlos, ganz angewiesen auf das Wohlwollen und die Zuneigung der Eltern. Das ist der Mensch: so wie Gott ihn sieht. Gott selbst nimmt die Züge eines Menschen an. Sollte es uns nicht möglich sein, in jedem Kind, in jedem Menschen die Züge Gottes zu erkennen? Noch die mürrische Alte und der Griesgram von Nebenan bleiben nicht unberührt, wenn sie in das Gesicht so eines Kleinen schauen. Gott ist Kind geworden, so die Botschaft von Weihnachten. Ein Kind, damit niemand vor ihm Angst haben, sich demütigen, sich genieren müßte.
Kindermord in Betlehem - damals wir heute. Es ist die erschütternde Seite jenes Festes, das so verheißungsvoll und friedlich begann: der Friede auf Erden: er bleibt gefährdet, auch nach 2000 Jahren. Krippe und Kreuz zeigen den Preis, den Gott zu zahlen bereit ist. Denn Gott läßt sich nicht abbringen vom Plan seiner Liebe, die allen gilt, auch durch Widerstände und Rückschläge hindurch. Das Wort vom Anfang gilt, unverrückbar, auch uns: Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade.