3. „Ich habe das Elend des Volkes gesehen und bin hinabgestiegen“
Verehrte Hörerinnen und Hörer,
Es ist schon eigenartig: da lese ich einen Satz oder höre ein Wort, das mir schon hundert Mal begegnet ist, über das ich hinweggegangen bin - und plötzlich blitzt es auf, springt mich an, da leuchtet es mir ein und läßt mich nicht mehr los.
So geschehen im letzten Jahr, unversehens mitten im Urlaub: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen - und bin hinabgestiegen“ ... Dieses Wort, das Mose nicht minder überraschend trifft, als er nichtsahnend in der Wüste die Schafe hütet, ist 1996 für mich zum „Wort des Jahres“ avanciert: der Gedanke, der mich am meisten umgetrieben und beschäftigt hat.
Gott offenbart sich da als einer, der nicht nur einfachhin über den Dingen steht und dem Lauf der Welt und dem Treiben der Menschen gleichgültig, aus der Distanz heraus zuschaut: Nein, Gott zeigt sich hier als einer, der sieht und der am Geschick seines Volkes höchst lebendig Anteil nimmt, den es nicht in seinem hohen Himmel hält, sondern der hinabsteigt und mitgeht.
Diese Sicht von Gott ist revolutionär, nicht nur für Mose. Es bleibt eben nicht bei den doppelten und unverbundenen Stockwerken: hier die abgeschlossene, sich selbst überlassene Erde mit all ihren Sorgen, Ängsten und Nöten und all der unerlösten Geschäftigkeit dort der über alle Unvollkommenheit erhabene und verschlossene Himmel Nein: Gott ist kein stiller Beobachter, der besserwisserisch am Ende des Weges steht und wartet, daß wir dort bei ihm ankommen. Oder der sich mit Schaudern abwendet, da er das Elend der Menschen sieht. Gott ist keineswegs der über alles Leid Erhabene, Unberührbare: er macht sich sozusagen die Finger schmutzig und steigt hinab, er gibt sich ab mit dem störrischen und widerspenstigen Volk. Er nimmt jeden ernst mit seinen Sorgen, seinen Fragen und Ängsten: zur Zeit des Mose ebenso wie heute. In Jesus ist er gar hinabgestiegen bis ans Kreuz und in das Reich des Todes, wie wir im Glaubensbekenntnis sagen. Und wenn er in das Elend hinabgestiegen ist, dann läßt er sich dort auch finden. Dann gibt es nichts mehr, das so schlimm, so gräßlich wäre, daß Gott nicht auch dort berührbar, erfahrbar wäre. Ich muß an jene Frau denken, die mir von der Alkoholabhängigkeit ihres Mannes berichtete, von dem Leid, daß diese Krankheit über die Familie gebracht hat, von dem Verlust der Arbeit, der eingereichten Scheidung, und die doch nicht verzweifelt und an den Sinn des Lebens glaubt.
Meine Gedanken wandern zu den Bewohnern des Dorfes Orasja in Bosnien. Dort haben Jugendliche aus Deutschland im letzten Sommer beim Aufbau des Kindergartens und der zerstörten Häuser geholfen. Die Dorfbewohner waren von der konkreten Anteilnahme der Fremden ganz überwältigt und sagten am Ende: Daß Ihr gekommen seid, war das größte Geschenk, das ihr uns machen konntet. Euer Kommen hat uns gezeigt, daß die Welt uns nicht vergessen hat ... „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen - und bin hinabgestiegen“ ...
Aber Gott bewendet es nicht bei Worten der Anteilnahme, bei der bloßen Betroffenheit. „Die laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid ...Und jetzt geh: ich sende dich...! Führe Du mein Volk ... aus Ägypten heraus!“ Wer es mit Gott zu tun bekommt, der wird auch in die Pflicht genommen. Aus der Gotteserfahrung erwächst der Auftrag. Für Mose heißt es, sich ebenfalls in die Abwärtsbewegung zu begeben. Wie könnte er, wenn Gott so tief hinabsteigt, erhobenen Hauptes und unbeeindruckt über das Leid der Menschen und die Not des Nächsten hinwegsehen? - eine Sendung, der Mose sich in keiner Weise gewachsen fühlt:
Der weitere Verlauf der Geschichte: Für Mose hat diese Stimme zur Folge, daß er seine Zurückgezogenheit und sein beschauliches Leben in der Wüste aufgibt, daß er auf Gottes Geheiß aufbricht in die Zentrale der damaligen Macht daß er sich zum Anwalt des unterdrückten und entrechteten Volkes macht.
„Ich habe das Elend meines Volkes gesehen - und bin hinabgestiegen“ ... Mein persönliches „Wort des Jahres 1996“ hat mir ein Stück mehr die Augen geöffnet und meine Ehrfurcht wachsen lassen: vor meinem Gott, der die Größe hat, hinabzusteigen.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie Spuren Seiner Anteilnahme auch in Ihrem Leben entdecken.