4. Körperwelten
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer. Es sind Bilder aus zwei verschiedenen Ausstellungen, die mich in diesem Jahr angerührt und innerlich bewegt haben. Zum einen: „Körperwelten“: Die Ausstellung von menschlichen Körperteilen, die öffentliche Zur-Schau-Stellung anatomischer Leichenpräparate. Eine wahrlich spektakuläre Ausstellung, die zu Proteststürmen und wüsten Beschimpfungen geführt - und zugleich zig-Tausende nach Mannheim, Köln und Oberhausen gelockt hat. Nachtschichten mußten eingelegt und Ausstellungen noch verlängert werden. Die Besucher sahen sich urplötzlich mit dem eigenen Tod, der eigenen Existenz konfrontiert. Der Mensch konnte gleichsam in einem Spiegel die Hülle seiner eigenen Endlichkeit betrachten.
„Die Faszination des Echten“, so wirbt der Katalog mit ungewöhnlichen Bildern. Doch was ist echt, was unecht? Was bleibt vom Menschen? Was ist seine Seele, was sein Geheimnis? Der Mensch: von Pathologen fein säuberlich seziert, konserviert, präpariert. Wer schützt seine Würde und wahrt seine Integrität? Der Mensch im Museum - ausgestopft, ausgeleuchtet, ausgestellt. Doch dem Geheimnis des Lebens und Sterbens kommt man so nicht auf die Spur.
„Was ist der Mensch?“ - Bilder ganz anderer Art waren dagegen in Bensberg und zuletzt im Paderborner Priesterseminar zu sehen. Die dort ausgestellten Bilder sind keine Exponate, sondern Lebenszeugnisse. Die Künstlerin hat Sterbende in ihren letzten Stunden begleitet, um ihnen liebevolle Nähe anzubieten. Dabei hat sie versucht, die Botschaften des erlöschenden Lebens zu entziffern und zu Papier zu bringen: Bilder von Kranken und Sterbenden, auf wenige Linien reduzierte Kohlezeichnungen, stille und eindrucksvolle Portraits von Menschen, die als Lebende fast schon Vergessene sind.
Die Bilder dieser Ausstellung zeigen - anders als die „Körperwelten“ - nicht das, was von uns übrig bleibt, wenn das Leben erstorben ist: eine sterbliche Hülle. Die einfühlsam und zart geführten Linien deuten vielmehr an, wie kostbar das Leben ist, das in seiner intensivsten Form, im Sterben, aufleuchtet. Sie lassen erahnen, was vergänglich ist, aber auch was bleibt, selbst über den Tod hinaus.
So beginnen die Bilder der Ausstellung ein Gespräch mit dem Betrachter, und oft mündet das Selbstgespräch in ein Gebet: in ein Sprechen mit dem, von dem alles Leben ist und der uns das Leben gewährt, gerade auch an der Grenze des Lebens. Konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit hebt sich der Blick nach oben, zu Gott: „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst?“, so in den Worten des Psalm 8. Dieser Psalm spricht von der Größe Gottes, dem Schöpfer des Universums, was ihn doch nicht daran hindert, sich des Kleinen und Schwachen anzunehmen. „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst?“ Das ist der erstaunte Ausruf des Menschen, der vielleicht zum ersten Mal in der Tiefe begreift, was der Mensch Gott bedeutet: daß wir von ihm geschaffen und auf ihn hin angelegt sind; daß wir nicht der Vergänglichkeit anheimfallen, sondern ihn ihm ewiges Leben erwarten dürfen.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, es waren nur Bilder einer Ausstellung, die mich angesprochen und in den zurückliegenden Monaten begleitet haben: Bilder allerdings, die unter die Haut gehen, weil sie Bilder meiner selbst sind. Sie sprechen von meiner menschlichen Begrenztheit und Hinfälligkeit, aber auch von meiner Würde, die mir niemand nehmen kann. Vor allem aber sprechen sie mir von Gott, in dem ich mich gehalten und geborgen weiß, im Leben und im Sterben. Möge es so bleiben, auch im kommenden Jahr. Ich wünsche es Ihnen.