6. Wer durstig ist, den werde ich umsonst trinken lassen aus der Quelle des Leben
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer,
„Wer durstig ist, den werde ich umsonst trinken lassen aus der Quelle des Lebens.“ Dies ist das Motto des letzten Tages der Ökumenischen Bibelwoche, Wie ich finde, ein wunderschönes Bild: Christen aller Kirchen, gemeinsam an der Quelle, Sie alle sind getrieben vom Durst nach Wahrheit und Leben, und alle haben gefunden. Dort, an der Quelle, schöpfen sie alle aus dem Vollen, und wird man nicht mehr wissen, wer den längeren oder kürzeren Weg zurückzulegen hatte, wer mehr oder weniger von dem Wasser in seinen Vorratsbeutel hatte.
Alle Christen, gemeinsam an der Quelle des Lebens. Das setzt allerdings voraus, daß man nach dieser Quelle sucht, daß man sich nicht mit abgestandenen Wasser zufrieden gibt, und sei es noch so gut konserviert. Es würde bedeuten, vor sich selbst und vor einander zuzugeben, daß wir noch unterwegs sind, Dürstende, voller Sehnsucht nach dem, der allein unseren Durst stillen kann.
„Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott“ so heißt es in einem Psalmengebet. Gemeinschaft im Glauben werden wir nur finden, wenn wir einander unsere Bedürftigkeit, unseren „Lebensdurst“ im umfassenden Sinn des Wortes eingestehen, ohne Überheblichkeit und Arroganz, mit der inneren Bereitschaft, sich auf dem Weg zur gemeinsamen Quelle von Gott führen, vom Heiligen Geist überraschen zu lassen.
„Wer durstig ist, den werde ich umsonst trinken lassen aus der Quelle des Lebens.“ Ich erinnere mich noch gut an eine Wanderung, zum Abschluß meines Studiums im Heiligen Land von Nazareth hinauf nach Jerusalem. Ich wußte, daß ich bei dem heißen Klima viel Wasser mitnehmen mußte, aber mir kam erst im Laufe der Wanderung zu Bewußtsein, wie sehr ich auf wohl gesonnene Menschen angewiesen war, die mir unterwegs immer wieder die Wasserflaschen füllten.
Dieser Weg führte mich auch nach Nablus, vorbei an dem berühmten Jakobsbrunnen, den schon Johannes in seinem Evangelium erwähnt. Heute ist an dieser Stelle eine kleine orthodoxe Kirche, und ein freundlicher Mönch schöpfte für mich Wasser aus dem alten Brunnen. Ich mußte dabei an jene Begegnung zwischen Jesus und der samaritischen Frau denken, an eben diesem Brunnen. Eine unerhörte Szene: Jesus ist sich nicht zu schade, sie - eine fremde, andersgläubige Frau - um einen Gefallen zu bitten. Er, der doch lebendiges Wasser zu geben hätte, bittet sie um das Wasser, das sie zu geben hat, auch wenn es nur abgestandenes Zisternenwasser ist.
Gemeinschaft im Glauben, so wird mir deutlich, geschieht nur so: wo ich den anderen nicht mit meiner vermeintlichen Fülle erschlage, wo ich ihm meine Wahrheit nicht um die Ohren schlage oder ihm vor Augen führe, wie wenig er hat und kann und ist.
Wir Christen werden nur zueinander finden, wenn wir einander nicht von oben herab, aus der Position der vermeintlichen Stärke begegnen. Jesus hat in dieser ungleichen Beziehung der Samariterin die Initiative zugespielt: sie herausfordert zu geben, was sie hat. Wo wir das Wenige, was wir haben, teilen, beginnt dieser Quell lebendigen Wassers bereits zu sprudeln, auch unter uns.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, die Zusage Gottes steht: „Wer durstig ist, den werde ich umsonst trinken lassen aus der Quelle des Lebens“, Ich meine, es könnte auch ein Programm für das Zusammenwachsen der Christen sein: wir alle sind auf dem Weg zur selben Quelle, der Quelle des Lebens, aus der Gott uns trinken lassen wird. Dort gibt es genügend lebendiges Wasser für alle, ohne Ausnahme. Und an jenem Tag wird man sich nicht mehr erinnern können, daß die Christen einmal getrennt waren. Darauf hoffe ich, darum bete ich, auch über diese Woche für die Einheit der Christen hinaus.