| Anzeiger für die Seelsorge

Die eigene Seele im Blick!

Kolumne

Die eigene Seele im Blick!“ – ein wohlmeinender Hinweis, gewissermaßen die pastoraltherapeutisch gemilderte Fassung des martialischen Ausrufs früherer Volksmissionen: „Rette Deine Seele“! Wie ein durchkreuztes Ausrufezeichen prangt diese Aufforderung noch heute in so manchen Kirchen. Die Botschaft ist unmissverständlich: Es geht um Deine Existenz, sorge Dich um Dein ewiges Heil! Oder, noch drastischer, in geschwungenen Lettern über dem Beichtstuhl in einem westfälischen Wallfahrtsort: „Bekenne oder brenne!“ Abgesehen von dem Befremden, mit dem ein Wallfahrer unserer Tage vermutlich auf eine solche direktive Ansprache reagierte, zeigt sich hier ein über Jahrhunderte gepredigtes Frömmigkeitsideal, das heute doch anachronistisch wirkt . Vor allem die religiöse Reformbewegung der Devotio Moderna und ihr Hauptwerk, die »Nachfolge Christi« (Thomas von Kempen, um 1420) - nach der Bibel bis heute die meistgelesene Schrift des Christentums[1] -, forderte den einzelnen zum Kampf gegen die eigene Sündhaftigkeit und gegen eine sündhaft korrumpierte Welt auf, um mit den Mitteln der Askese, des Gebets und der Selbstkasteiung das Ziel der Selbstverleugnung zu erreichen.

Die Bewahrung oder Rettung der eigenen Seele also um den Preis von Weltflucht oder gar Weltlosigkeit?[2] Sieht so Erlösung aus? Das klingt heute doch merkwürdig suspekt. Denn ganz grundsätzlich stellt sich zunächst einmal die Frage, wie man etwas retten soll, das man nicht sehen und nicht anfassen kann: die eigene Seele, wenngleich man intuitiv ahnt, dass es so etwas wie eine innerste existenzielle Mitte des Menschen gibt, einen unsterblichen Wesenskern – oder wie es im Theologendeutsch heißt: „das Leben und die Lebenskraft des Menschen in seiner psychosomatischen Ganzheit als Individuum und Person mit seiner wesenhaften Offenheit für Gott“ (Haag, LThK 9, 374). Das also soll man im Blick haben. – Das klingt schon ziemlich kompliziert: eine Sonderaufgabe für Spezialisten.

Aber gottlob haben wir Menschen seit Urgedenken ein vorbegriffliches Wissen darum, dass in uns etwas auf Transzendenz, auf Ewigkeit, auf Gott hin angelegt ist, und es steht uns zu Gebote, mit ganzem Herzen und ganzer Kraft - und eben auch „mit ganzer Seele“ (vgl. Mt 22,37) - den Herrn, unseren Gott, zu lieben (und nicht nur unseren ihn). „Jeder Mensch trägt von seinem innersten Wesen nur einen Bruchteil nach außen. Wir zeigen unsere Individualität, unsere Unteilbarkeit besonders dort, wo wir sie (mit)teilen: in der Liebe. In ihr entäußert sich die Seele. In Beziehungen, lebendigen, guten, starken, ehrlichen Beziehungen, wird die Seele erkennbar“, so schreibt Sabine Rückert lebensnah über das „Wesen der Seele“ (ZEIT Magazin, 20. 12.2017): Lebendige Seel-Sorge eben in einem ganz elementaren, positiven, über sich selbst hinausgreifenden Sinn. Erst in der Dynamik der Liebe: von sich weg – auf den anderen hin, findet der Mensch sich selbst. Ein Paradox, auf das schon Jesus seine Jünger hingewiesen hat, „denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten. Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt?“ (Lk 9,24f). Anstatt sich in selbstmitleidigen Klagen zu ergehen: „Ich kann machen, was ich will!“ oder „Ich bin dazu verdammt, der zu sein, der ich bin!“, heißt es in der Logik Jesu vielmehr: „Ich werde, der ich bin“. Der Blick für die eigene Seele, will sagen: der Weg zu sich selbst – und auch zu Gott – führt bezeichnenderweise über den Bruder und die Schwester: leben vom anderen – leben für den anderen. Eine höchst dynamische, identitätsstiftende Spannungseinheit der Liebe, anders als etwa der „Denker“ Desacartes sich das vorgestellt hat:
Amor ergo sum: Ich werde geliebt, also bin ich.
Amo ergo sum: Ich liebe, also bin ich.
Eine solche anthropologisch begründete, jesuanisch einladende Beziehungsspiritualität bewahrt dann in letzter Konsequenz auch vor individualistischer Engführung und führt im Gegenteil zu einem geistlich und menschlich erfüllenden Leben, das hier auf Erden beginnt und sich einmal im Himmel vollendet: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder [resp. Schwestern] lieben.“ (1 Joh, 3,14).

 

[1] Vgl. Michael Schneider, Zur Geschichte der christlichen Spiritualität. Edition Cardo; Bd. 79, Köln 2001, 83.
[2] „Der Mensch muss sich von allem Vergänglichen, d.h. Geschöpflichen freimachen, auch von seinem Leib (dem »Leibeskerker«), und wissen, dass er »in der Verbannung«, nicht im »Vaterland« lebt.“ Michael Schneider, aaO., 84.