Die goldene Regel
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer
Es ist frühmorgens, kurz nach sechs. In dem alten Bauernhaus, um einen wackeligen Tisch versammelt, sitzen acht Männer, der jüngste ist 14, der älteste 38 Jahre alt. Einer von ihnen hat eine aufgeschlagene Bibel in der Hand, alle sind ernsthaft ins Gespräch vertieft. Ich bin in Brasilien, in einer therapeutischen Einrichtung für Drogenabhängige. Bevor die Männer auf‘s Feld gehen oder zu den Rindern, lesen sie einen Abschnitt aus der Bibel.
„Facenda da Esperanza“ – Hof der Hoffnung, so heißt die Einrichtung, die mittlerweile auch einen Ableger in Deutschland, in der Nähe Berlins hat. Das Leben auf der Fazenda kreist um Worte: alte Worte aus der Bibel, die jedoch im Zusammenleben der jungen Leute eine ungeahnte Dynamik entfalten. Es sind einfache Worte, leicht verständlich und unmittelbar einsichtig, daher taugen sie als Lebensregeln für das Miteinander. Eine Hausgemeinschaft nimmt sich am Morgen etwa als Programm die Goldene Regel, den meisten als Sprichwort bestens bekannt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg´ auch keinem anderen zu!“ Aber das Überraschende dabei ist, dass man tatsächlich auch danach leben kann. Am Abend kommt die Wohngruppe wieder zusammen und tauscht sich aus, wie weit die Losung den Tag über gegriffen hat: ob es gelungen ist, nicht ausfällig geworden zu sein, nicht misstrauisch, nicht verletzend. Ein anderes Mal wird das Motto positiv gewendet: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12). Das eigene Denken und Handeln positiv zu beeinflussen, ist für die meisten total ungewohnt, vor allem am Anfang, wenn der Körper rebelliert, weil er keine Drogen mehr bekommt, und wenn die körperliche Arbeit, der feste Lebensrhythmus, die Einbindung in eine Gemeinschaft einem als eine unmenschliche Tortur vorkommt.
„Die Leute, die ankommen, sind voller Stolz, sind gefangen von Sex, Drogen, Geld, von lauter vergänglichen Dingen“, sagt Vamberto, der selbst vor Jahren aus dem Milieu ausgestiegen ist und hier wieder Tritt gefasst hat. „Wir versuchen, ihnen in all dem eine neue Klarheit zu geben: dass es etwas Übernatürliches, Unendliches gibt.“ Mit der Zeit verfehlen diese gemeinschaftlich gefassten Vorsätze nicht ihre Wirkung. Sie führen zu einer Umkehr im Denken - und auch im Handeln. Man erlebt, dass auch der andere sich müht, etwa wenn einer vor den anderen bekennt, dass er die Geduld verloren hat oder in der Hitze der Diskussion laut geworden ist. Es ist keine Schande, Fehler einzugestehen und um Verzeihung zu bitten. Das imponiert und gibt Mut auch für das eigene Bemühen.
Worte des Evangeliums, eins ums andere in die Tat umgesetzt, und darüber ständig im Gespräch sein: das ist die grundlegende Pädagogik dieses Selbsthilfeprojekts und der eigentliche therapeutische Ansatz, sozusagen die Unternehmensphilosophie. So werden die kleinen häuslichen Gemeinschaften Woche für Woche jeweils durch ein „Wort“ geführt, und das „Wort“ führt sie zu einem zunehmend erfüllten Leben. Darin liegt das Geheimnis, warum die meisten es schaffen, wieder neu anzufangen.
Ende der Kurzfassung
„Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ Die „Goldene Regel“ findet sich – so oder in ähnlicher Formulierung - in den Volkswahrheiten wie in den heiligen Schriften aller großen Weltreligionen. Hier auf der Facenda da Esperanca wird sie zur Lebensregel, zur Grundlage für das Miteinander, die Voraussetzung, dass der Neuanfang gelingt – und anhält.
„Man fühlt sich einfach besser“, sagt Patrick aus Leipzig, der mir das Projekt auf Gut Neuhof bei Berlin erklärt. „Die ersten sechs Wochen brauchst du, um von der Droge wegzukommen, und den Rest des Jahres, um einen neuen Lebensstil anzufangen: zu lernen, nicht ständig um dich selbst und deine eigenen Bedürfnisse zu kreisen, sondern einen Blick für den anderen zu bekommen: ihm zuliebe das Radio leiser zu drehen, sich nicht sofort das größte Stück Fleisch auf den Teller zu tun; Zeit zu haben, wenn er ne Runde Schach spielen will.“ Es sind die kleinen Dinge, die das Leben verändern.
„Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ Verehrte Hörerinnen und Hörer, man muss nicht auf Entzug von der Droge, vom Ego sein, um das kleine zarte Glück zu erfahren, das in diesem Lebensstil der Goldenen Regel begründet liegt. Ich wünsch es Ihnen – heute.