Heimat haben: Olga
Ihr Name ist Olga, 55 Jahre. Nachdem sie jahrelang auf die Papiere gewartet hatte, den Sprachtest bestanden, von den wenigen Freunden und Verwandten Abschied genommen hatte, war sie in der Landesstelle angekommen. Eine Deutsche aus Russland, eine von Tausenden, die in den letzten Jahren nach Deutschland zurückgekehrt sind, heimgekehrt in ein ihnen fremdes Land. Alles ist neu, fremd und unheimlich. Ein Kulturschock. Auch für Olga.
Und es scheint, als wäre es ihr Los, ein Leben lang fremd zu bleiben:
damals in Kasachstan, ihrer Heimat, in der sie doch nie wirklich heimisch war. Sie war zwar dort geboren und aufgewachsen, aber sie war keine Kasachin, keine Russin – sondern Deutsche.
Und nun hier in Deutschland, wo sie den meisten wieder als Fremde gilt: als „Russlanddeutsche“, fremd allein schon aufgrund ihrer Sprache und Kleidung, ihrer Gewohnheiten, ihrer Scheu und Unsicherheit, sich in dieser Umgebung zurechtzufinden.
Ein Leben in der Fremde, auch im eigenen Land, im eigenen Volk. Aber da gibt es auch etwas wie eine innere Heimat: wo sie sich aufgehoben weiß: in ihrem Glauben, den sie von ihrer Babuschka erlernt und übernommen hatte. Dort, wo sie herkam, gab es keinen Kommunion- oder Firmunterricht, auch keine Sonntagsmesse, keinen Priester, keine Gemeinde. Ja selbst die Erinnerung war gefährlich. „Wir hatten in Kasachstan ja nie die Möglichkeit, unseren Glauben zu leben und die Sakramente zu empfangen“, sagte sie in gebrochenem Deutsch „Aber meine Mutter und meine Großmutter sagten mir immer, wenn wir gebetet haben: Wir sind katholisch.“
Für Olga ist es eine völlig neue Erfahrung, dass es in der Nähe eine katholische Kirche gibt. Dass die Türen dort offen stehen und sie willkommen ist. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt sie Gemeinde, die täglich zum Gottesdienst zusammen kommt, zur Messe, zum Rosenkranz. Und dass da ein junger Priester ist, der sie freundlich anspricht und sich für sie interessiert.
So fremd dieses Deutschland ihr auch ist, in das sie nach Generationen zurückkehrt: Hier ist Heimat, weil sie hier auf „ihre Familie“ trifft: auf Menschen, die sie zwar hier zum ersten Mal kennen lernt, mit denen sie aber bereits das Wichtigste in ihrem Leben teilt: jenen Glauben, der in ihr von Kind auf lebendig ist und den sie sich über Jahrzehnte im Stillen bewahrt hat, auch ohne Taufe, Beichte, Messe … Darum war eine der ersten Angelegenheiten, die Olga nach ihrer Ankunft in Deutschland in Angriff nahm, der Besuch beim Pfarrer. Nach all dem jahrelangen Warten wollte sie um die Taufe bitten.
Und da stand sie nun mit feierlich-ernster Miene am Eingang der kleinen Hedwigs-Kirche, und antwortete auf die Frage, was sie von der Kirche erbitte, mit klarer Stimme: „Die Taufe!“
Und nachdem sie mit dem geweihten Wasser „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ übergossen worden war, gesalbt mit dem heiligen Chrisam-Öl, legte sich ein unvergessliches Strahlen auf das Gesicht dieser einfachen Frau aus der Weite Kasachstans. Unvergesslich, wie sie aufrecht und würdevoll dastand in ihrem weißen Taufgewand, Zeichen ihrer Würde als Tochter Gottes, die Taufkerze in der Rechten, die zuvor an der Osterkerze entzündet worden war, ihr übergeben mit den Worten: „Empfange das Licht Christi!“
(Als der Priester am Ende der Zeremonie ein feierliches Gebet sprach, hatten alle den Eindruck, einen zutiefst glücklichen und des Lebens sicheren Menschen vor sich zu haben.
„Du göttliches Licht. Leuchte auf in den Augen dieses getauften Menschen. Strahle auf in seinem Leben. Sei Du ihm Stern in der Nacht und Sonne am Tag.“)
Ja, diese Frau strahlte etwas von diesem göttlichen Licht aus. Olga, nach so langer Zeit der Fremde und des Wartens angekommen war sie endlich angekommen: bei Gott – und Gott bei ihr.