Spiritualität atmen
„Im Anfang [...]schwebte Gottes Geist über den Wassern“ (Gen 1,1f). Was für ein großartiger Auftakt biblischer Heilsgeschichte! Gottes Atem, sein Geist, so die Botschaft von den ersten Zeilen an, ist Lebensprinzip all dessen, was ist. Mehr noch: Es ist derselbe Geist, sein Geist, den Gott allen Lebewesen einhaucht. Auch dem Menschen „er blies in seine Nase. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ (Gen 2,7). Was literarkritisch zwei unterschiedlichen Schöpfungsberichten zuzuordnen ist[1], gibt in der kanonischen Sichtweise doch ein Ganzes. Der Gott der Schöpfung ist auch der Herr des Lebens, der den Menschen mit seinem Geisthauch lebendig macht.[2] Gott gibt von dem, was sein ist; und alles Leben verdankt sich dieser elementaren Zuwendung Gottes: „Verbirgst du dein Angesicht, sind sie verstört, nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub. Du sendest deinen Geist aus: Sie werden erschaffen und du erneuerst das Angesicht der Erde.“ (Ps 104, 29f) Eine großartige Sicht der Bibel: Nichts und niemand, ob er an Gott glaubt oder nicht, ob er um ihn weiß oder nicht, ist von seinem lebenspendenden Geist ausgeschlossen.
Doch diese vorgängige göttliche Lebenskraft, die jedem Menschen innewohnt, will bewusst wahrgenommen, mit Namen genannt werden. Das meint: anerkennen, woraus ich lebe; dem gegenübertreten, dem ich mich verdanke. So jedenfalls verstehe ich das Gebet, das dem heiligen Augustinus zugeschrieben wird (und in einer modernen Liedfassung auch Eingang ins neue Gotteslob gefunden hat): „Atme in mir, du Heiliger Geist, dass ich Heiliges denke“.
Was in dem Titel dieses Themenheftes – vielleicht der Urlaubssaison geschuldet - so leichtfüßig daherkommt: „Spiritualität atmen“, ist ganz im Gegenteil ein spirituelles Schwergewicht, ein elementarer existenzieller Akt. Denn was in der Urgeschichte noch amorph über den Wassern schwebt und unbewusst jedem Menschen als Lebensprinzip innewohnt, bekommt für die Jünger Jesu in der Begegnung mit dem Auferstandenen eine neue, lebensverwandelnde Bedeutung, und auch dies geschieht in einem Anhauch, der Lebensweitergabe durch den Auferstandenen. Während sich die Jünger Jesu nach dessen Tod noch ängstlich abgeschottet hatten, ratlos, wie es weitergehen sollte, zeigt sich dieser ihnen völlig unerwartet als der Lebende. Eine phantastische Geschichte, die Johannes da glaubhaft wiedergibt, der eine reale Erfahrung mit dem Auferstandenen zugrundeliegt, denn eben dieser totgeglaubte Jesus „trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! ... Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!“(Joh 20,19.22). Das beschreibt nichts anderes als die neue Existenz des Jüngers Christi wie der Kirche als ganzer: sich je neu den Geist Christi schenken lassen und aus seiner Kraft und nach seinen Maßstäben leben. „Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir das erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist.“ (1 Kor 2,12) Doch den Geist „besitzt“ man nicht, sondern muss sich seiner Dynamik je neu anheimgeben: „erkennen, was von Gott geschenkt“wird; hören, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (vgl. Offb 2-3). Wer danach lebt, ist alles andere als ein vollkommen vergeistigtes, welt- und lebensfremdes Wesen. Ganz im Gegenteil. Leben „im Geist“ („en pneumati“ findet sich 19 Mal bei Paulus) bedeutet, „mit Leib und Seele leben, aber ganz erfüllt von Gott, ein vollständiger Mensch sein, allerdings jetzt in einer Form, die keine Grenzen, Schwächen, Bedrängnisse oder Todesdrohungen mehr kennt. Wer nach dem Geist lebt, hat eine Körperlichkeit, für die Raum, Zeit und Welt keine Grenzen mehr sind, sondern nur noch Kommunikation, Offenheit und Gemeinschaft mit Gott und mit der ganzen Schöpfung , darstellen.“[3] So „atmet“ man Spiritualität, in dem Bewusstsein, von Gottes Geist durchdrungen zu sein, dazu gedrängt, Gottes Taten zu vollbringen. Denn, und auch das ist hohe Theologie, wie sie in einem Gotteslob-Lied zum Ausdruck kommt, „wohin sein Feueratem fällt, wird Gottes Reich lebendig“. Gelebte Spiritualität, die die Welt verändert.
[1] Die Wendung „Hauch des Lebens“ [nischemat chajjîm] im jahwistischen Schöpfungsbericht (Gen 2) steht synonym für den Topos „Gottes Geist“ [ruach elohim] in der Priesterschrift (Gen 1).
[2] Vgl. Julius Steinberg, Materialien zur Genesis, Kap. 4: Warum gibt es im Buch Genesis zwei „Schöpfungsberichte“? Version August 2015.
[3] Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht: 25 Jahre Befreiungstheologie, Gütersloher Verlagshaus, 16.12.2011 (3b)