Verstehst du auch, was du da liest ...? Bibelteilen
„Verstehst du auch, was du da liest?“
Es ist eine Reisebekanntschaft der besonderen Art, die da in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Philippus, einer der Jünger Jesu, verlässt sich auf seine Intuition, als er in den Wagen des Fremden steigt. Der Mann scheint der Prototyp dessen zu sein, der religiös motiviert, aber nicht weiter festgelegt ist, er ist auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem religiösen Erlebnis. Dafür nimmt er auch lange Wege und große Strapazen in Kauf. Aber der Durchbruch ist allem Anschein nach ausgeblieben. Als Philippus ihn trifft, liest er zwar in den heiligen Schriften, aber versteht sie nicht. „Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“, so seine resignierte Antwort.
So mag es auch heute manchem ehrlich suchenden Zeitgenossen gehen. Als Jugendlicher war ich oft in der Kirche und hatte das Gefühl, nah dran zu sein am Heiligen. Aber im letzten verstand ich nicht, was da vorgetragen wurde. Ich erinnere mich an die Predigten, die mir endlos vorkamen, und an Evangelien, die einfach an mir vorbeirauschten. Das ärgerte mich, denn ich hatte den Eindruck, dass mehr dahinter war, als ich verstand. Hätte mich jemand gefragt, meine Antwort wäre genau dieselbe gewesen wie die jenes Weltenreisenden: „Wie könnte ich verstehen, wenn mich niemand anleitet?“
Aber es hat mich niemand gefragt, und es hat mich auch niemand angeleitet. Im Grunde wäre es mir peinlich gewesen, zuzugeben, dass ich zwar kirchlich sozialisiert und religiös geschäftig war, im Grunde aber keinen inneren Bezug fand zum heiligen Geschehen, den heiligen Worten. Eine unbequeme Lage: ernsthaft zu suchen und gleichzeitig zu merken, in den wesentlichen Fragen allein zu sein. Seitdem war mir klar: Eigentlich geht Glauben nur mit anderen. Allein ist es mühsam. Ich hätte einen Philippus gebraucht, jemanden, der mitgeht und mir den Sinn der Schrift erschließt.
Viel später habe ich entdeckt, dass das sogar Methode hat. Man nennt es „Bibel teilen“. Ursprünglich für die Christen auf dem Land entwickelt, in den entlegenen Dorfgemeinschaften Südafrikas, hat sich diese Methode, die Bibel zu lesen, weltweit durchgesetzt. Man beginnt mit einem Gebet, um sich innerlich vor Gott zu stellen. Ein Abschnitt aus der Bibel wird vorgelesen, und jeder wiederholt ein Wort, einen Satz, der ihn besonders anspricht. Dabei ist wichtig, dass man nicht sofort ins Diskutieren kommt, sondern die Worte auf sich wirken lässt und nach der Bedeutung für das eigene Leben fragt. Seit Jahren treffe ich mich regelmäßig mit Jugendlichen zum Bibelteilen; wir lesen die biblischen Texte des nächsten Sonntags und einigen uns am Ende auf ein Leitwort für die nächste Woche, ein Wort zum Leben.
Vor einiger Zeit war genau jener Abschnitt aus der Apostelgeschichte dran: „Verstehst du auch, was du da liest?“ Ich war beeindruckt, mit welchem Verständnis auch 15- und 16jährige die Bibel lesen, wenn sie es gelernt haben, danach zu leben. Und im Gespräch scheint es, als ob erst im Zusammenlegen der Puzzleteilchen die ganze Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit des biblischen Textes aufleuchtet.
Verstehen, was man liest. Aber es gilt auch umgekehrt: Leben, was man versteht.
So wächst der Glaube, so bekommt das Leben einen tieferen Sinn.
Ende der Kurzfassung
Verehrte Hörerinnen und Hörer, es braucht manchmal Mut, auf den Lebenswagen des anderen aufzuspringen und nach dem Wesentlichen zu fragen. Es braucht oft genauso viel Mut, den anderen in das eigene Lebensgefährt aufzunehmen, bereit, die eigene Schwäche, das eigene Unvermögen zu offenbaren. Es braucht Mut, sich nicht von den wirklich wichtigen Fragen ablenken zu lassen, sondern bis zu den Konsequenzen für das eigene Leben dran zu bleiben.
Ich wünsche Ihnen, dass die Frage nach dem wahren Gott, nach dem rechten Glauben und Tun Sie umtreibt und nicht in Ruhe lässt. Und ich wünsche Ihnen einen Philippus, der zu Ihnen in den Lebenswagen steigt: einen Weggefährten für die wirklich wichtigen Fragen im Leben. Dass daraus Antworten werden, die zu tieferem Verstehen – und zu erfüllendem Leben führen.