Weihnachten auf der Autobahn
Ich musste mich beeilen. Ich hatte einem befreundeten Pfarrer zugesagt, die Christmette in einer seiner Filialkirchen zu zelebrieren; denn als Studentenpfarrer war ich über Weihnachten ohne Gemeinde. Die meisten Studenten waren zu Hause oder in Skiferien.
Es wurde allmählich dunkel, als ich endlich auf der Straße war, vorbei an erleuchteten Häusern und weihnachtlich geschmückten Vorgärten. Noch 160 Kilometer. Bis zum Beginn der Messe blieben mir noch knapp drei Stunden. Um diese Zeit gehörte mir die Autobahn fast ganz allein. Ich hatte Zeit zum Nachdenken, zum Beten. In Gedanken ging ich noch einmal meine Predigt durch und versuchte, mich innerlich auf die fremde Gemeinde einzustellen. Ich freute mich darauf, am Heiligabend späterer bei dem befreundeten Pfarrer ausklingen zu lassen. Ein schönes Gefühl, erwartet zu sein.
Doch dann geschah alles ganz schnell. Vor mir in einiger Entfernung die Warnblinkanlage, ein Polizeiwagen auf der Standspur, Blaulicht. Ich bremste ab, zunächst ging es noch im Schritttempo vorwärts, dann bewegte sich nichts mehr. Eingekeilt zwischen anderen Wagen galt es zu warten: 10 Minuten, 20 Minuten, eine Stunde. Es tat sich nichts.
Nervosität stieg in mir auf. Würde ich es noch rechtzeitig bis zum Beginn der Christmette schaffen? Wem könnte ich um diese Zeit, an diesem Abend noch telephonisch Bescheid sagen? Und dann natürlich dies: Kein Handy weit und breit. Also Geduld. Warten.
Zwischendurch war ich ausgestiegen, wurde aber nicht zur Unfallstelle vorgelassen. Ein Kleinbus war über die Leitplanken auf die Gegenbahn geschleudert und dort von einem entgegenkommenden Fahrzeug erfasst worden. Der ganze Streckenabschnitt war in gleißendes Licht getaucht; die Feuerwehr war im Einsatz, ein Krankenwagen fuhr gerade mit Blaulicht davon. Am Straßenrand ein Leichenwagen.
Plötzlich hatte ich Zeit. Viel Zeit. Zeit für Wesentliches. Zeit, über mein Leben nachzudenken, Gott für alles zu danken, was er in meinem Leben gewirkt hatte. Aber auch vor ihm auszubreiten, was nicht gelöst war, wo ich mit ihm haderte, den Sinn nicht verstand. Unter dem sternenklaren Himmel fühlte mich Gott auf unerwartete Weise mit einem Mal sehr nah. Was wäre gewesen, wenn ich nur wenige Minuten früher gekommen wäre: Hätte es mich getroffen? Wäre ich bereit gewesen, Ihm, meinem Schöpfer gegenüberzutreten - Rechenschaft über mein Leben zu geben? In meinen Dank mischte sich auch Trauer über manche verpassten Chancen, über nicht gelebtes Leben, wenn ich mich mal wieder von Termindruck und Arbeitsfülle hatte überrollen, von Sorgen oder Ausgelassenheit hatte dominieren lassen: Stimmungen und Gefühlen, denen ich mich ausgeliefert habe. So war ich unvorhergesehen auf die einzig wichtigen Fragen meines Lebens gestoßen. Wofür lebe ich? Für wen gehe ich? Was bleibt, wenn alles einmal zuende ist?
Weihnachten auf der Autobahn. Ich betete für die Verletzten, die Helfer, die Trauernden – für jene, deren Fahrt urplötzlich zuende war. Sie waren angekommen. Und, wie ich zuversichtlich hoffte: Gott war bei ihnen angekommen. Für immer. Weihnachten, Anfang jenes neuen Lebens, das - so glauben wir - eine Ewigkeit gefeiert wird.
Die Christmette fand übrigens zwei Stunden später statt - die Gemeinde hatte kurzerhand beschlossen, gegen Mitternacht noch einmal zusammenzukommen. Die Weihnachtsbotschaft hatte mit einem Mal einen feierlich – ernsten Klang. Gott ist im Kommen. Damals wie heute. Es ist gut, dafür bereit zu sein.