| Ruhr Nachrichten

75 Jahre Kommende in Dortmund „Andere Herausfor­derungen als zur Zeit von Stahl und Bier"

Die Kommende in Dortmund verbindet Kirche mit weltlichem Leben - seit 75 Jahren. Für welche Werte steht das Sozialinstitut? Prälat Dr. Peter Klasvogt gibt Antworten.

„Gesellschaft gerecht gestalten“, das ist die Mission der Kommende in Dortmund-Brackel. Als Schnittstelle zwischen Kirche und Welt will das Sozialinstitut Menschen für das Gerechtigkeitsideal der Katholischen Soziallehre begeistern. Zum 75. Gründungsjahr der Kommende Dortmund sprach Direktor Prälat Dr. Peter Klasvogt mit Wolfram Kiwit. Die beiden kennen sich seit vielen Jahren.

Für alle, die die Kommende Dortmund nicht kennen. Wie kannst du die Kommende in einem Satz beschreiben?
Klasvogt: Die Kommende Dortmund ist das Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn, seit 75 Jahren engagieren wir uns für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – mit den Werten und Prinzipien der Katholischen Soziallehre.

Was passiert denn konkret in der Kommende?
Wir bieten Seminare, Kurse und Weiterbildungsformate an, aber auch viele Informationsveranstaltungen zu relevanten gesellschaftlichen und sozialen Fragen. Es geht uns darum, miteinander zu verstehen. Wo sind die Stellschrauben, an denen wir für die Gesellschaft etwas tun können?

Wofür brauchen wir die Kommende?
Alle reden über Werte. Aber: Für welche Werte stehen wir wirklich? Wir wollen Umwelt, Nachwelt, Mitwelt im Blick behalten. Wir finden Verbündete, die sich engagieren, die Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander übernehmen. Und wir sagen: Das sind die Werte der Katholischen Soziallehre; auf der einen Seite die Würde des Einzelnen, gerade auch jene, die bedrängt sind, am Rande stehen, in prekären Verhältnissen leben. Auf der anderen Seite das Gemeinwohl, also das, was uns allen wichtig ist und für uns alle wichtig ist. Oft verwechselt man das Gemeinwohl mit dem „Meinwohl“ – also da, wo jeder nur auf sich schaut. Wir haben den Blick für das Ganze.

Hat sich die Rolle der Kommende über die 75 Jahre verändert?
Die Schnittstelle zwischen Kirche und Welt ist gleich, aber die Welt hat sich verändert, und natürlich auch die Kirche. 1949, im Jahr der Gründung der Kommende: Häuser, Pfarrhäuser, Kirchen lagen in Schutt und Asche, und die Gründer hatten den Weitblick zu fragen: Mit welchen Werten wollen wir den moralischen Wiederaufbau der Gesellschaft gestalten? Nach Holocaust, Zweitem Weltkrieg, Nazi-Diktatur. Das war die Stunde Null. Das Grundgesetz wurde im selben Jahr verabschiedet.

Welche Momente aus den 75 Jahren sind prägend gewesen?
Ich denke, dass Kardinal Reinhard Marx, damals noch Direktor, , die Kommende wesentlich geprägt hat. Gerade auch im Blick auf den Einsatz für die Arbeitswelt. Eine große Tradition der Kommende ist mit dem Bergbau verbunden. Also mit der Frage der Humanisierung der Arbeitswelt. Heute gibt es andere Herausforderungen als zur Zeit von Kohle, Stahl und Bier. Heute reden wir auch über die Frage, wie Arbeitsplätze human gestaltet sein können. Aber vieles passiert im Homeoffice. Und die Gesellschaft ist zunehmend säkularisiert.

Was bedeutet das für die Arbeit in der Kommende?
Das deckt sich mit der Lernkurve der katholischen Kirche oder den Kirchen allgemein. Auf die Haltung, die Leute sollen zu uns kommen und wir belehren sie, folgt; Wir müssen raus. Wir müssen vor Ort sehen, wo sich Gesellschaft verändert. Ich denke etwa an ein neues Prekariat, das unter dem Radar ist. Nehmen wir die Paketzusteller oder die Menschen, die nachts unsere Büros putzen. Die kommen in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit kaum vor. Oder nach 2015 die Frage der Migration. Nehmen wir die Menschen wahr, die alle eine Fluchtgeschichte, oft eine traumatische Geschichte haben?  Wir haben gesagt, wir müssen bei uns anfangen - und haben in der Kommende ein ganzes Haus mit 20 Betten freigeräumt.

Wie erreicht die Kommende gesellschaftlichen Gruppen, die wir nicht im Blick haben?
Wir haben verschiedene Projekte, auch Sozialpartnerschaften, bei denen wir mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Und mit Sozialpartnern wie den Gewerkschaften arbeiten wir an den konkreten politischen Fragen unseres Zusammenlebens.

Erlebt ihr die Vertrauenskrise, in der sich Kirche befindet?
Manche sind überrascht, wenn sie an Kirche denken und die Kommende erleben. „Wie, das ist Kirche?“ höre ich dann. Mit offenen Foren bieten wir die Möglichkeit, dass auch Menschen mit uns in Kontakt kommen, die mit Kirche nichts am Hut haben. Oder die von Kirche enttäuscht oder verletzt sind.

Kann man als Christ die AfD wählen? Die Kirche sagt nein. Was sagst du?
Es gibt die erstaunliche Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz. Einstimmig verabschiedet, was nicht nur mich verwundert hat. Ich glaube, es ist wichtig, deutlich zu machen: Wo jemand nationalistisch, völkisch, ausgrenzend denkt, redet und handelt, geht das nicht, und das müssen wir klar so benennen. Gleichzeitig müssen wir mit Andersdenkenden ins Gespräch kommen, sie nicht ausgrenzen, sondern mitnehmen.

Du bist der neunte Direktor der Kommende, keiner war länger im Amt als du. Hattest du jemals Zweifel?
Im Gegenteil, ich entdecke ständig neue Möglichkeiten. Mit der Kommende sind mehr Kontakte, ist mehr Austausch, mehr Teilhabe möglich als in einer Pfarrgemeinde. Kirchenintern sprechen wir von der kategorialen Seelsorge. Mit der Kommende kommt Kirche in der Gesellschaft an. Wir sollten mehr Kommende wagen.

(Text/Bild: Wolfram Kiwit / Ruhr Nachrichten)