„Armes Deutschland?“
„Armes Deutschland!?“
Dortmund, Borsigplatz.
Wo Menschlichkeit auch heute
noch einen guten Namen hat
Steht ein Mann in der Fußgängerzone - in feinem Nadelstreifenanzug und mit treuherzigem Augenaufschlag: „Haste mal ’ne Milliarde?“ Die Karikatur in einer Dortmunder Zeitung, der Stadt mit der zweithöchsten Arbeitslosenrate in Nordrhein-Westfalen, macht auf bedrückende Weise deutlich, wie sehr die Bankenkrise auch alle Pläne zur Armutsbekämpfung in Schieflage bringt. Während wir uns noch ungläubig die Augen reiben über Milliardenverluste und gigantische Rettungspakete, droht bereits eine weltweite Rezession, in deren Folge auch das Armutsgefälle in unseren Städten sich weiter verschärfen würde. Dabei stellt sich die „soziale Frage“ schon jetzt mit großer Dringlichkeit. Wie der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008 „Lebenslagen in Deutschland“ ausweist, öffnet sich weiter die Schere zwischen Arm und Reich. Jeder Achte in Deutschland lebt an der Armutsgrenze (allgemeine Armutsquote: 13 %); ohne Sozialleistungen wäre es jeder Vierte. Ein besonders hohes Armutsrisiko haben nach dem Bericht Zuwanderer (28,2%), Arbeitslose (43%) und Alleinerziehende (48%) sowie deren Kinder (12%). Nach anderen Untersuchungen lebt jedes vierte Kind in Deutschland in Armut (eine Studie des Bundesfamilienministeriums errechnet eine Kinder-Armutsquote von 17,3 %!). Und auch wenn es den Rentnern vergleichsweise gut geht: Wer hätte noch vor Jahren gedacht, dass in unseren Innenstädten verhärmte ältere Menschen im Abfall nach Verwertbarem suchen?!
Dortmund und die Folgen des Strukturwandels
All diese Tendenzen verschärfen sich, wenn man in die sozialen Problemzonen unserer Städte blickt. Beispiel Dortmund. Vor 150 Jahren trieb Ingenieurskunst aus Dortmund den Eisenbahnbau voran. Später trugen Kohle, Stahl und Bier aus der Revierstadt zum Wirtschaftswunder bei. Ab den sechziger Jahren dann der Absturz: Erst schlossen die Zechen, später Brauereien und Stahlwerke. Zigtausende verloren ihren Job, allein 50 000 zwischen 1980 und 2000. Rechnet man die Familien der von Arbeitslosigkeit Betroffenen hinzu, kommt man schnell auf eine Zahl von rd. 150-200 000 - annähernd ein Drittel bzw. ein Viertel der Stadtbevölkerung, das auf Sozialleistungen angewiesen war. Zwar hatte die Kommune im selben Zeitraum massiv in Zukunftstechnologie investiert, dafür auch entsprechend Fördermittel akquiriert und bis heute höchst erfolgreich über 700 IT-Firmen, 650 Logistikunternehmen und 30 Mikro- und Nanotechnologie-Firmen angesiedelt, doch erholt sich der Arbeitsmarkt nur langsam: Die Arbeitslosenquote in Dortmund sank zwar von 17% in 2006 auf aktuell unter 14%, liegt aber immer noch heftig über dem Bundesdurchschnitt von 7,4 Prozent. Frühere Bergleute und Stahlkocher finden eben selten einen Job als Mikrotechniker. Das Europäische Städtenetzwerk Eurocities hat die Metropole im Osten des Ruhrgebiets unlängst als "innovativste Stadt Europas" ausgezeichnet; die sozialen Probleme aber wird die Stadt so schnell nicht los.
Man braucht nur in die Nordstadt zu gehen, die an die Rückseite des Hauptbahnhofs angrenzt, jenseits des „Armutsäquators“, wie die Dortmunder die B 1, die die Stadt durchschneidende Ost-West-Tangente, nennen. Rund um den Borsigplatz prägen Imbissbuden und Billigläden, Straßenstrich und Drogenszene, Obdachlosigkeit und Kriminalität das Straßenbild - und auch das Lebensgefühl der Menschen. Wer hier lebt, ist am unteren Ende der sozialen Skala angekommen. Armes Dortmund.
Die Erfolgsstory vom Borsigplatz
Dabei blickt man gerade am Borsigplatz auf eine reiche Tradition zurück. Hier steht die Wiege des BVB, des Dortmunder Bundesligaclubs, Aushängeschild der Stadt und zugleich breite Identifikationsfläche und Modell gelungener Integration. Denn wenn zu den Heimspielen im Zweiwochenrhythmus 80 000 Fans in die regelmäßig ausverkaufte Fußball-Arena pilgern, trifft man dort Menschen jedweden Alters und jedweder Herkunft und Einkommens- und Bildungsschicht, Hauptschüler ebenso wie Studenten, Arbeiter, Unternehmer, Arbeitslose, Rentner; selbst die Prominenz der Dortmunder Gesellschaft kann es sich nicht leisten zu fehlen. Unbeschadet aller sozialen Unterschiede: sie alle eint etwas, worauf man als Dortmunder stolz ist, wo man zusammenhält und wo man selbst Niederlagen ertragen kann.
Was allerdings wohl kaum einer der ebenso leidenschaftlichen wie leidensfähigen Fans weiß: Die ballspielenden Borussen unserer Tage sind ein glückliches Relikt einer beispiellosen Erfolgsgeschichte kirchlich-sozialer Integration. Denn schon einmal, zu Beginn des letzten Jahrhunderts, hatte man mit den Folgen einer „demographischen Explosion“ zu tun, als tausende Arbeiter im Zuge der Industrialisierung mit ihren Familien aus Schlesien, Posen und West- und Ostpreußen ins Ruhrgebiet zogen, die überproportional der Unterschicht angehörten und mit einem hohen Lebensrisiko existierten. Es war zugleich die Blüte des Ruhrgebietskatholizismus. Unter dem Eindruck von Massenmigration und Urbanisierung bis dahin unbekannten Ausmaßes waren es insbesondere die Kirchen, die gewaltige Anstrengungen unternahmen, um die Zuwanderer in zahllosen religiösen, sozialen, kulturellen und politischen Vereinigungen zu integrieren. Einer dieser Vereine war die Jünglingssodalität der Dreifaltigkeitsgemeinde am Borsigplatz, aus der der „Ballspielverein Borussia 09“ hervorgegangen ist - heute vor fast genau 100 Jahren.
Symbol des sozialen Niedergangs
Der mittlerweile börsennotierte Fußballclub ist längst in den wohlhabenden Dortmunder Süden umgezogen; die Gegend rund um den Borsigplatz dagegen scheint die sozialen Probleme gepachtet zu haben. Bis heute. Der Sozialraum der Dortmunder Nordstadt weist eine Bevölkerungsdichte von 37,4 Einwohner/ha aus, was im Stadtgebiet sonst nur noch von den Betonburgen des sozialen Wohnungsbaus getoppt wird. Mit einem Ausländeranteil von 41,1 %, einer Arbeitslosenquote von 34,1 % sowie einer Minderjährigenquote von 25,8 % weist die Gegend um den Borsigplatz diesbezüglich die höchsten Werte aller Dortmunder Stadtbezirke auf. 5,3% der unter 21-Jährigen nehmen hier Hilfen zur Erziehung in Anspruch (im Dortmunder Süden: 1%). Dass es sich hier um die Dortmunder Problemzone handelt, macht auch der Einkommensindex deutlich, wonach das Stadtviertel um den Borsigplatz am unteren Ende der Skala der zu versteuernden Einkommen je Steuerpflichtigen liegt und gerade einmal die Hälfte vom Durchschnittswert der Gesamtstadt erreicht; dem entspricht die Rate von nur rd. 30% sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (im Alter von 18 bis unter 65 Jahren). Umgekehrt proportional verhält sich dazu die Sozialhilfedichte in diesem Stadtteil, wonach mehr als 14 % die Grundsicherung (Sozialhilfe) beziehen; bei Kindern im Alter von unter 6 Jahren steigt die Zahl der Empfänger auf über 27% (2004). Auch in Bildungsfragen gibt es ein Nord-Süd-Gefälle: Während im Norden fast 20% der Grundschüler zur Hauptschule wechselt, sind es in vielen Sozialräumen südlich der B1 nur um die 5 %.
In nüchternen Zahlen dokumentiert der in Zusammenarbeit mit dem „Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung der Universität Bochum“ (ZEFIR) erstellte Sozialstrukturatlas 2005 die dramatische Entwicklung (www.sozialbericht.dortmund.de), und der "Bericht zur sozialen Lage", der das umfangreiche Datenmaterials nach 39 sog. "Sozialräumen“ aufschlüsselt, kommt zu dem alarmierenden Ergebnis, dass die soziale Entwicklung in der Stadt gefährlich auseinanderdriftet: Arme Stadtteile werden immer ärmer, die wohlhabenden immer älter. Immer mehr Kinder und Jugendlichen leben dagegen in benachteiligten Sozialräumen. So sind die einzigen Viertel, in denen signifikant mehr Geburten als Todesfälle gezählt werden, zugleich jene mit den größten sozialen Problemen. "Arm und Reich, Familien mit und ohne Kinder bewegen sich auseinander und leben zunehmend sozialräumlich polarisiert", so ein Ergebnis der Studie. "In Stadtteilen, wo heute die meisten ´Ausländer´ leben, leben auch die meisten ´armen´ Inländer." Dort addieren sich soziale, ethnische und demographische Aspekte zu massiven Problemräumen. Auch in dieser Hinsicht nimmt der „Sozialraum Borsiglatz“ einen traurigen Spitzenplatz ein.
Abwärtsspirale und Aufwärtsbewegung
Das alles kommt nicht über Nacht. Aus der Armutsforschung weiß man, dass zunehmende sozio-ökonomische Ungleichheit zu sich ebenfalls verschärfender räumlicher Ungleichheit führt: zu „residentieller Segregation“: Benachteiligte Bewohner leben in benachteiligenden Stadtteilen. Das lässt sich auch rund um den Borsigplatz beobachten. Dieser negative Kreislauf hat nicht nur eine ökonomische Dimension: die hohe Arbeitslosigkeit und den Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsangeboten, infolgedessen die rückläufige Kaufkraft und eine Verschlechterung der Nahversorgung (Konsum; Ärzte; Apotheken; Gaststätten etc.). Hinzu kommt auch eine städtebauliche Komponente; denn benachteiligte Stadtteile führen zu weiterer Benachteiligung ihrer Bewohner und verschärfen den Prozess der Abschottung. Das zeigt sich im fortgeschrittenen Stadium schließlich an mangelhafter Bausubstanz und Wohnungsausstattung, an fehlenden bzw. verwahrlosten Frei- und Grünflächen, an der mangelhaften Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum: ein subjektives Unsicherheitsgefühl bis hin zu dem Stigma von „no-go-areas“, schließlich auch an dem Fehlen von Kommunikationsorten und an der hässlichen Kulisse brachliegender Industrieanlagen.
So trist diese Städteansichten auch sind: man darf sie nicht verstecken, sondern muss sich ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit widmen. Denn wer erfolgreich politisch agieren will, muss die Realitäten wahrnehmen und anerkennen; erst dann können wirksame politische Strategien entwickelt und Projekte verwirklicht werden. Insofern ist die Erhebung und Auswertung der sozialen Lage der Stadt für Dortmund in gewisser Hinsicht - bei aller Dramatik - ein Glücksfall, und allein dies zugelassen und gefördert zu haben, ist bereits eine bemerkenswerte Leistung der Stadtväter (und -mütter!). Denn anstelle lähmender Schuldzuweisungen und resignativer Untätigkeit fordert die schonungslose Aufdeckung der sozialen Probleme und die breit geführte öffentliche Debatte alle kommunalen wie zivilgesellschaftlichen Akteure der Stadt zu einer konzertierten Aktion heraus. In Dortmund beteiligten sich schon in der Startphase (April bis Juni 2008) mehr als 2.000 Menschen: engagierte Bürgerinnen und Bürger, Vereine, Organisationen, Verbände, Kirchengemeinden; und aus den rund 200 Projektideen wurden in einem ersten Schritt 34 Projekte konkret in Angriff genommen: zur beruflichen Integration von Jugendlichen und Unterstützung von Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung; im Bildungssektor, insbesondere der Sprachförderung, und im Bereich des Zusammenlebens und der Nachbarschaft; zur Förderung von Beschäftigung und lokaler Ökonomie im Stadtviertel.
Die sozial-katholische Tradition vom Borsigplatz
Was im Sozialbericht in Grafiken und Kurven so anschaulich dokumentiert wird, hat allerdings eine eminent personale Dimension, die in Schautafeln leicht übersehen wird. Hinter den nüchternen Zahlen verbergen sich Schicksale von Menschen, die Woche für Woche in der Josefsgemeinde im Herzen der Nordstadt für Konserven anstehen oder die Kleiderkammer der Gemeinde belagern; Alte, die sich schämen, am Ende eines Berufslebens auf Sozialhilfe angewiesen zu sein und sich die Zuzahlung für den Arztbesuch und die Medikamente nicht mehr leisten können; Jugendliche, deren Zukunft nach der abgebrochenen Schul- oder Berufsausbildung schon jetzt verbaut ist.
Natürlich sind auch die Kirchengemeinden engagiert, die vielen kirchlichen und karitativen Einrichtungen und Sozialverbände, unzählige kirchliche Initiativen und Gruppen. In der Gegend um den Borsigplatz betreut die Initiative KOBER, eine Einrichtung des Sozialdienstes katholischer Frauen (SKF), junge Frauen auf dem Straßenstrich, von Aufwärmstuben bis hin zur Ausstiegsberatung. Nur einige Straßenzüge weiter befindet sich das Dortmunder Gasthaus, wo Menschen ohne Obdach nicht versorgt, sondern als Gäste willkommen geheißen werden. Dort bekommen bis zu 300 Gäste täglich nicht nur eine warme Mahlzeit und Kleidung, sondern treffen auf Menschen, die ihnen zuhören und mit ihnen reden. Natürlich ist auch der
Caritasverband Dortmund mit seinen rd. 1.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sozial engagiert. Aber wer weiß schon, dass er noch einmal so viele ehrenamtliche Engagierte zählt, die in konkreten Projekten und Diensten mitwirken?! Und immer wieder trifft man bei ähnlichen Einsätzen in den Stadtteilen und Sozialräumen - auch im Bereich des Borsigplatzes - auf bekannte Gesichter: Männer und Frauen, die man sonst im Kirchenchor oder im Pfarrgemeinderat trifft; Jugendliche, die sonntags als Messdiener am Altar stehen und sich nebenher - unspektakulär und unprätentiös - einmal im Monat im „Gasthaus“ einfinden, um Kartoffeln zu schälen und Essen auszugeben; Schülerinnen aus dem Reli-Leistungskurs, die Kindern ausländischer Mitbürger Deutsch beibringen oder für gehbehinderte Mitbürger Besorgungen erledigen und Behördengänge machen.
„Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl“ (Jer 29,7). Das oft verborgene Engagement der Christen in der Stadt erinnert an jenes prophetische Wort des Jeremia, der den ins Exil Verschleppten nahe legt, sich nicht aus der Realität wegzuträumen, sondern sich im Gegenteil genau dort einzubringen: konkret, mit Intelligenz, Kreativität und handfestem Engagement - Grundeinsicht für eine Theologie der Inkulturation. Die christliche Gegengesellschaft - „bei euch aber soll es nicht so sein …“ (Mt 20,26) - bedeutet der Gemeinde gerade nicht Rückzug und Abschottung, sondern fordert sie zu ihrer eigentlichen Berufung heraus, als „Salz der Erde“ (Mt 5,13) dem Miteinander in Staat und Gesellschaft seine Würze - und damit seine Würde - wiederzugeben. Das heißt damals wie heute: zivilgesellschaftliches Engagement zu zeigen und mitzubauen an der Stadt, in der man lebt, eine Stadt, die aus Mitgefühl und Solidarität, aus Verantwortung für das Gemeinwohl und -ja, auch aus Liebe zu den Mitmenschen aufgebaut wird. So ist es auch in Dortmund, auch am Borsigplatz.
Die Erinnerung an ruhmreiche Zeiten, in denen Christen ihren Beitrag für das Wohl der Stadt und für die Entwicklung zu einem humanen, menschenwürdigen Wohnort beigetragen haben, ist noch lebendig. Und natürlich ist da auch die Josefsgemeinde, unweit vom Borsigplatz, Anlaufstelle und oft letzte Station für Ratlose und Ratsuchende, Betrüger und Betrogene, Enttäuschte und Gedemütigte. „Sie alle gehören zu uns“, wie Pfarrer Hermann Daniel immer wieder betont. Für ihn, einst als Arbeiterpriester im Bergbau tätig und bis heute aktives Mitglied der Gewerkschaft IG BCE, wie für die vielen namenlosen engagierten Christen in dieser Stadt ist Solidarität kein Fremdwort. Sie tragen ihr soziales Engagement nicht groß vor sich her, aber sie prägen das soziale Gewissen und das menschliche Gesicht dieser Stadt.
Mit Almosen allein ist es allerdings nicht getan, auch nicht mit einer Milliarde - auch wenn manche Not damit gelindert würde. Es ist die unprätentiöse, wertschätzende Geste der Menschlichkeit, die die Präsenz der Christen in unserem Land so kostbar macht. Es ist diese personale Dimension menschlicher Wärme, lebenswichtig in einer Zeit sozialer Kälte. Es ist der Reichtum, den wir selbst empfangen haben und den wir weitergeben müssen. Nicht auszuschließen, dass dabei manch einer überrascht feststellt, selbst der eigentlich Beschenkte zu sein.