Auf Reformkurs. Der Ort der Priester in einer transformierten Kirche
Die katholische Kirche in Deutschland befindet sich derzeit in einem historischen Transformationsprozess, der an den Kräften zehrt und alle Kräfte bindet. Man wird wohl erst im Abstand von Jahrzehnten die Leistung derer zu würdigen wissen, die der Kirche heute als Entscheidungs- und Verantwortungsträger auf allen Ebenen eine erneuerte, zukunftsfähige Sozialgestalt geben, oft gegen erhebliche, zuweilen erbitterte Widerstände und unter großem persönlichen Einsatz, manchmal auch zu einem hohen Preis.
I. Neue Grenzen ziehen. Territoriale und pastorale Strukturreform
Dass sich die pastoralen Planer und Akteure in der Regel nicht unbedingt aus freien Stücken und mit überschäumender Begeisterung auf dieses Jahrhundertvorhaben gestürzt haben, unterstreicht eher die Ernsthaftigkeit und Besonnenheit, mit der man sich den veränderten sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der postmodernen Gesellschaft gestellt hat, eher fragend als forsch. Denn leicht fällt es keinem, von bewährten Gemeindestrukturen Abschied zu nehmen und sich – notgedrungen – auf neue, größere soziale Räume pastoralen Handelns einzulassen. Doch der Aufbruch zu einer neuen Gestalt des Kircheseins ist alternativlos, denn das Auseinanderbrechen einstmals überschaubarer, geschlossener (katholischen) Milieus hat mittlerweile auch die letzten noch intakten Teilsysteme erreicht, und mit der schleichenden Aushöhlung des Gemeindelebens müssen auch die bis dato bewährte Organisation der Seelsorge und die Formate kirchlichen Handelns den neuen Bedingungen angepasst werden.
Denn das Lebensgefühl der Menschen, mithin auch der Gemeindemitglieder, hat sich geändert und ist weithin bestimmt von der Individualität und Pluralität persönlicher Lebensstile und Lebensentscheidungen. Entsprechend kritisch begegnet man jeglichen institutionellen und autoritativen Vorgaben und verwahrt sich gegen jede Art von äußerer Beeinflussung und Bevormundung, auch von Seiten der Kirchen, deren moralische Autorität und Deutungskompetenz zwar (immer noch) geschätzt, aber nicht (mehr) fraglos hingenommen wird. Priester und Seelsorger erfahren oft schmerzlich, dass Gemeindemitglieder ihre Glaubens- und Zugehörigkeitsstile ändern und ihre eigene Interpretation des Kircheseins über die gesetzten Standards stellen. Gottesdienste und Sakramentenempfang werden je nach individuellem Geschmack und Anspruch aus- oder abgewählt, kirchliche Moralvorstellungen subjektiv modifiziert und Glaubenswahrheiten der eigenen Überzeugung angepasst. Dieses geänderte Anspruchs- und Auswahlverhalten selbst unter den „treuen“ Gemeindemitgliedern führt insbesondere bei denen, die als Repräsentanten der Kirche mit der Gemeindeleitung betraut sind, zu erheblichen Belastungen und Verunsicherungen. Denn die Gemeinden verlieren nicht nur Mitglieder durch Glaubensabbruch und Kirchenauszug, es werden auch jene weniger, die sich kirchlich engagieren, und mit ihnen auch jene, die den Priester bislang in seinem Verkündigungsauftrag wie seiner priesterlichen Identität geschützt und gestützt haben. All das zwingt dazu, die Räume größer zu ziehen und mit manch liebgewordenen Gewohnheiten zu brechen. Da verwundert es nicht, wenn der Reformprozess nicht jedermann einsichtig und nicht für alle angenehm ist, denn Veränderungen verunsichern und verleiten zu Aggression und Regression, zu Nostalgie und innerer oder auch tatsächlicher Emigration.
Die Hauptlast dieses Transformationsprozesses tragen zweifelsohne die Priester, die die Strukturanpassungen und Pastoralkonzepte vor Ort umsetzen und als Prellbock lokaler Widerstände über ein hohes Maß an Integrations- und wohl auch Leidensfähigkeit verfügen müssen. Allein schon deswegen wäre es angebracht, den Priestern besondere Beachtung, Unterstützung und Entlastung zukommen zu lassen. Denn „die Kirche hat gegenwärtig keinen Brückenkopf, der so schutzlos in die religiösen Umbrüche hineingehalten wird, wie den Weltpriester. Nirgendwo ist die Gleichzeitigkeit geistlicher, organisatorischer, öffentlicher und biografischer Ansprüche so kulminiert wie in der Berufung des Priesters“ (Sellmann).(1) In einer Zeit, in der die Sphären Gottes und der Welt, so scheint es, immer weiter auseinanderklaffen, wird der Spagat des brückenbauenden Weltpriesters, Anwalt des Transzendenten in einer sich selbst überlassenen Welt, immer schwieriger, erst recht, wenn er allein ist. Da ist die Gefahr groß, die in seiner weltpriesterlichen Berufung grundgelegte Spannung zur einen oder anderen Seite aufzulösen, dass er an-gepasst oder ab-sonderlich wird.
II. Den Mangel ergründen. Priestermangel, Mitgliederschwund und Substanzverlust
Und wäre das nicht schon schwer genug, müssen sich die Priester auch noch des Vorwurfs erwehren, nicht nur Hauptleidtragende, sondern auch Hauptschuldige dieser (von vielen so empfundenen) „Misere“ zu sein. Denn gäbe es mehr von ihnen, den Priestern, so ist landauf landab zu hören, könne man sich diese gewaltige Strukturreform ersparen; und es gäbe auch mehr von ihnen, den Priestern, würde man nicht so „stur“ an der priesterlichen Zölibatsverpflichtung festhalten – eine ebenso gängige wie irrige Annahme, wohl eher als Mitleidsäußerung (mit einer „zur Ehelosigkeit verdammten“ Priesterschaft) denn als Bekenntnis zur Priesterehe gemeint.
Doch so populär diese Forderungen auch sind und so populistisch sie vorgetragen werden: sie gehen am eigentlichen Kern des Problems vorbei. Denn vieles spricht dafür, den Priestermangel nicht als Ursache, sondern als Folge der kirchlichen Transformationskrise zu begreifen, abzulesen an den statistischen Daten des Einwohnermeldeamtes oder Finanzamtes, aber auch am eklatanten Rückgangs kirchlicher Glaubensidentität und –praxis. Darüber kann auch nicht die erfreuliche Ausweitung des ehrenamtlichen Engagements im pastoralen, jugend-pädagogischen, sozial-karitativen und administrativ-organisatorischen Bereich hinwegtäuschen; denn dezidiert spirituell geprägte Formen gemeinschaftlichen Glaubens, vor allem wenn sie auf Kontinuität und Intensität angelegt sind, haben derzeit wenig Konjunktur. Da verwundert es nicht, wenn aus schrumpfenden Kerngemeinden nur noch wenige geistliche Berufungen hervorgehen, zumal deren geistliche Prägung immer weniger und von immer weniger Gläubigen verstanden und positiv bejaht wird. Keine Frage: auch das nicht immer positive Lebenszeugnis der priesterlichen Berufsträger trägt auf seine Weise dazu bei, dass man der zölibatären Lebensform keine spirituelle Kraft zutraut.
III. Den Wandel wagen. Erneuerte Gestalt des Priesterlichen mit Signalwirkung
Der unstreitige Priestermangel und die besorgniserregende Krise der geistlichen Berufungen dürften aber auch in dem Gestaltwandel des Priesterlichen (und weniger in der Zölibatsverpflichtung) begründet sein. Denn die Diskontinuität in der Ausgestaltung des priesterlichen Dienstes verunsichert zumal junge Menschen, die sich für die eigene Lebensplanung an bewährten Lebensmodellen orientieren wollen. Sie sind in der Regel mehr auf Sicherheit und Kontinuität bedacht, als dass sie der Dynamik eines im Wandel begriffenen priesterlichen Amtes trauen. Über Jahrhunderte galt die Institution des Priesters am Ort (neben Bürgermeister und Lehrer) als Garant für Stabilität und Kontinuität, Verkörperung des Unwandelbaren in allem Wandel. Kann man es den nachfolgenden Generationen verargen, dass sie angesichts der aktuellen Veränderungsprozesse und Verunsicherungen nach dem künftigen Berufsprofil und der Lebensgestalt des Priesters fragen? Die derzeitigen Amtsträger, mit ihrer aktuellen Herkulesaufgabe beschäftigt und z.T. überfordert, sind diesbezüglich nicht unbedingt (wie zu früheren Zeiten) die besten Ratgeber, und auf pastorale Planungen hin ist nur schwerlich die eigene Priesterberufung anzugehen. Wer heute über die Berufung zum Priester nachdenkt, braucht Sicherheit, dass es und wie es den Beruf des Priesters gibt, wenn er mit der Ausbildung fertig ist.
So zeigt sich gerade auch in der Berufungskrise, untrüglicher Indikator von Verschiebungen im Profil kirchlicher Berufe, dass die theologische Neubesinnung des priesterlichen Amtes im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils und die derzeitige räumliche Neuordnung der Seelsorgeeinheiten zwingend auch zu einer Neupositionierung des Priesters innerhalb des personalen Koordinatensystems kirchlichen Lebens führen muss.
IV. Die Mitte stärken. Der Ort der Priester inmitten der Gemeinde
Nach dem ersten Teil der Strukturreform steht die Kirche daher am Scheideweg, wie sie künftig die Gestalt des Priesterlichen im Kontext der Gemeinde etablieren und auf die nächsten Jahrzehnte hin festschreiben will. Der Transformationsprozess der Kirche ist zwar insgesamt weit fortgeschritten, doch die lebensräumliche Dimension ihres Dienstes ist für die Hauptakteure in diesem Prozess, die Priester, bislang nur unzureichend in den Blick gekommen. So steht denn mit den neu gezogenen Grenzen auch die Konfiguration der neuen Mitte der Gemeinden zur Disposition: Sollen die Priester fortan in territorialen Kleinstsegmenten als Generalisten eingesetzt werden, vereinzelt und in Äquidistanz zueinander? Oder sind die größeren pastoralen Räume darauf angelegt, in ihrer Mitte künftig eine weltpriesterliche Gemeinschaft zu beherbergen, in welcher Form auch immer, aber klar definiert als Regelfall pastoraler Raumordnung und Modus priesterlicher Lebensgestalt? Für beides gibt es Gründe, aber es wird darauf ankommen, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, wie priesterliche Lebensgestaltung für die Zukunft gewährleistet werden kann; denn das dürfte nicht dem einzelnen Priester überlassen oder fallweise von pastoralen Gegebenheiten abhängig gemacht werden. Natürlich wird es auch künftig, wenn man auf das Zusammenrücken der Priester setzt, Übergänge und Ausnahmen geben müssen, „Außenstellen“ für allein lebende Priester, in Zuordnung zu einem zentralen Lebensort des Presbyteriums. Eine Ortskirche müsste allerdings verbindlich erklären, wie sie die Standards priesterlicher Lebensform setzen will, damit sie Signalstärke entwickeln und einen Orientierungsrahmen auch für künftige potentielle Priesterkandidaten bieten. In ihren „Optionen“ hatte sich die Deutsche Regentenkonferenz schon 2002 – im Blick auf die Empfehlungen des Konzilsdekrets „Presbyterorum ordinis“ (bes. PO 8) - für kommunitäre Formen priesterlicher Lebensgestalt ausgesprochen: „Besser um der Sendung willen Formen gemeinsamen Lebens verwirklichen - als für eine flächendeckende Versorgung die Vereinsamung von Priestern in Kauf nehmen“ – oder deren Verbürgerlichung, wie man ergänzen müsste.
Doch darf es hinsichtlich der Lebensgestalt des Priesterlichen nicht nur bei wohlklingenden Optionen und allgemeinen Absichtserklärungen bleiben. Für den, der heute Priester ist bzw. es morgen werden will, braucht es verlässliche Rahmenbedingungen, und sei es auch nur zur Absicherung von Pilotprojekten. Denn sollen dauerhaft und flächendeckend „Formen gemeinsamen Lebens“ ausprobiert und eingeübt werden, bedarf es eines allgemein anerkannten Konzepts und eines verbindlichen Rahmens, genügend weit gefasst, aber doch konkret genug, um Aspekte der Leitung und Arbeitsorganisation in den Blick zu nehmen, der Rekreation wie der Tisch- und Gebetsgemeinschaft, der wohnräumlichen Ausgestaltung wie der theologisch-pastoralen Fundierung und Weiterbildung, nicht zuletzt auch der Berücksichtigung altersspezifischer Bedürfnisse und Grenzen sowie der Einbindung in das größere Presbyterium. Dabei ließe sich durchaus an traditionelle Formen gemeinsamen Lebens unter Priestern anknüpfen (z.B. Regularkanonikern), könnte man Erfahrungswerte mit anderen Ortskirchen austauschen (etwa bzgl. des presbytère in Frankreich oder der rectories in den USA) oder auch bei den sog. Neuen Kirchlichen Gemeinschaften Anleihen machen, in denen das menschliche und geistliche Miteinander von Diözesanpriestern, z.T. auch in häuslicher Gemeinschaft mit Laienberufen, den Humus auch für pastorales Wachstum und missionarische Fruchtbarkeit bilden.
V. Den Aufbruch wagen. Konzentrisch-missionarische Theologie des Presbyteriums
Doch es sind beileibe nicht nur lebenspraktische Gründe, die für eine gemeinschaftliche priesterliche Lebensform sprechen, die geistlich motiviert bzw. motivierend, menschlich bereichernd und pastoral inspirierend ist. Insofern bedarf es einer neu zu entwickelnden bzw. zu vertiefenden Theologie des Presbyteriums selbst, wie sie zu seiner Zeit ein Ignatius von Antiochien entwickelt hat, wenn er das Presbyterium im Bild der Harfe beschreibt, deren Saiten im zusammenklingenden Spiel Christus aufklingen lassen. Wie sollte im Miteinander derer, die Gott geweiht sind, nicht auch die Präsenz des Auferstandenen aufleuchten und ausstrahlen, die denen („zwei oder drei“) verheißen ist, die in Seinem Namen beisammen sind (vgl. Mt 18,20). Diese Gegenwart des Herrn ist beileibe nicht an die Priesterweihe gebunden; aber sollte die Gemeinde, sollten die verschiedenen kirchlichen Dienste und Berufungen nicht gerade auch hier die Wirklichkeit Gottes „berühren“ können und jene Kraft erfahren, die von dem Auferstandenen ausgeht (vgl. Lk 6,19)? Der gemeinsame priesterliche Lebensraum – nicht exklusiv, sondern inklusiv! - stünde so im Dienst des Gemeindeaufbaus: „Dienstpriestertum“ im wahren Sinn des Wortes, Bezugspunkt für alle geistlichen Berufungen und pastoralen Dienste, die haupt- und ehrenamtlich Engagierten; Orientierungspunkt für alle, die sich von der Ausstrahlung und Prägekraft des Christlichen angezogen fühlen; zugleich geistliches „Kraftzentrum“, das die pastoral Planenden und Handelnden vor unerleuchtetem Pragmatismus bewahrt. Eine Gemeindetheologie müsste vor diesem Hintergrund stärker den „Zusammen-Hang“ aller Berufenen, der getauften wie geweihten, reflektieren und die Mitte gemeindlichen Lebens neu von jener geistlichen Communio her deuten, in urchristlicher Zeit als der „Leib Christi“ verstanden, der aus der Eucharistie als dem „Leib Christi“ aufgebaut wird.
Die Katholische Kirche in Deutschland ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts unstreitig eine Kirche auf Reformkurs, der sich allerdings nicht in einer territorialen Neuordnung erschöpften darf. Nach der strukturellen Umbauphase bedarf es einer personalen Aufbauphase, bei der die Priester ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen, diesmal allerdings nicht primär durch ihr pastorales Handeln, sondern durch ihre priesterliche Lebensgestaltung, indem sie die in ihrer Berufung grundgelegte kommuniale Dimension des Priesterlichen auch lebensräumlich zur Entfaltung bringen und für die Gemeinde fruchtbar machen. So erwächst der Kirche in der Konzentration auf die Mitte, ihrer Einheit in Christus, neue missionarische Kraft - „damit die Welt glaubt“
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1 Matthias Sellmann, Der Priester – Brückenkopf im Umbruch. Thesen zur Auswertung des Außerordentlichen Priesterfortbildungszyklus aus pastoraltheologischer und organisationssoziologischer Perspektive, unveröffentlichtes Manuskript, Paderborn 2008.