Christen als Kulturkämpfer? Epochale Umbrüche erfordern soziale Ethik
„Dieser Wahlkampf ist ein Kulturkampf“, so lautete einige Wochen vor der Bundestagswahl die Titelzeile der ZEIT (Nr. 33, 10.8.2017). Die Assoziation des historischen Begriffs - der preußische Staat suchte im Kulturkampf mit aller Macht den politischen Einfluss der katholischen Kirche zurückzudrängen - war natürlich gewollt. So fragwürdig es ist, ob man an Wahlergebnissen letztlich moralische Präferenzen des Wahlvolks ableiten kann, so notwendig ist es gleichwohl, die Frage der Wertorientierung unserer Gesellschaft immer wieder neu zu stellen: wie wir als Gesellschaft leben, woran wir uns halten wollen, und was unser Zusammenleben prägen soll. Marc Brost, der Autor des erwähnten Leitartikels, hatte die Wahlentscheidung zu einer „außergewöhnlichen, ja spektakulären“ Richtungsentscheidung stilisiert: „Es geht um nicht weniger als einen Kulturkampf: Sollte Deutschland vielfältig, offen und flüchtlingsfreundlich sein – oder muss das endlich korrigiert werden? Darf es in der Außenpolitik feste moralische Grundsätze geben – oder müsste man manches ... ein bisschen lockerer sehen? Und: Wie halten wir es mit dem Klimaschutz?“ So gesehen ist eine politische Wahl tatsächlich ein Gradmesser dafür, ob eine Wertorientierung (und wenn ja, welche ) in der Politik von der Mehrheit des Wahlvolkes (noch) gedeckt ist, und was die ethischen Grundsätze sind, nach denen die Regierenden nach Volkes Wille handeln sollen.
Nun also, wenige Wochen nach der Bundestagswahl, ist der Pulverdampf verraucht. Der Wähler hat gesprochen. Ist der „Kulturkampf“ also entschieden? Natürlich nicht. Auch wenn die Richtung, die das Wahlvolk eingeschlagen hat, sich abzeichnet, bleibt die Frage der „Leitkultur“ virulent (wieder so ein umstrittener Begriff, über den man lustvoll streiten kann). Was ist es, "was uns im Innersten zusammenhält“? Eine Frage, die Thomas de Maizière vor einigen Monaten in einem viel beachteten und kontrovers diskutierten Beitrag aufgeworfen hat: „Wer sind wir? Und wer wollen wir sein? Als Gesellschaft. Als Nation. Die Fragen sind leicht gestellt, die Antworten schwer.“(BamS, 30.04.2017) Ausgestattet mit dem Mandat der Bürger werden die Koalitionäre dem Rechnung tragen müssen, wenn sie die Leitlinien der Politik für die nächsten Jahre fein säuberlich austarieren. „Einige Dinge sind klar. Sie sind auch unstreitig: Wir achten die Grundrechte und das Grundgesetz. Über allem steht die Wahrung der Menschenwürde ...“ All das ist unabdingbar notwendig, aber, so de Maizière, noch nicht hinreichend. "Unser Grundgesetz und unsere Gesetze bilden den unverhandelbaren Rahmen für unser Zusammenleben. Dazu gibt es aber noch mehr, wie Werte, Tugenden und ungeschriebene Normen die unser Miteinander bestimmen. Diese sind - gerade in Krisenzeiten - genauso wichtig wie unsere Gesetze."
Darin zeigt sich aber auch das Dilemma nicht nur eines Innenministers, sondern jedes Gemeinwesens, dass es bei aller Vielfalt einen common sense, einen gemeinsamen Vorrat an öffentlicher Moral geben muss. Dem Staat muss daran gelegen sein, eine von Werten, Tugenden und ungeschriebenen Normen getragene Kultur zu stützen und zu fördern, ohne die moralische Substanz seiner Bürger doch von sich aus schaffen oder garantieren zu können. Das hatte schon bekanntermaßen der ehemalige Verfassungsrichter Böckenförde herausgestellt. Wohl „kann der Staat selbst glaubwürdig moralische Ziele verfolgen, zum Beispiel soziale Gerechtigkeit, und so ein Klima schaffen, in dem Moral ernst genommen wird“, doch kann er nicht seinen „den Bürgern einen Ethos und moralische Bekenntnisse mit seinen hoheitlichen Methoden aufzuerlegen und zu erzwingen“ suchen (taz, 23.9.2009). Insofern verwundert es nicht, wenn Thomas de Maizière der Religion für den Zusammenhalt in unserem Land und insbesondere den Kirchen mit ihrem „unermüdlichen Einsatz für die Gesellschaft“ hohe Bedeutung beimisst: „sie verbinden Menschen, nicht nur im Glauben, sondern auch im täglichen Leben, in Kitas und Schulen, in Altenheimen und aktiver Gemeindearbeit. Ein solcher Kitt für unsere Gesellschaft entsteht in der christlichen Kirche, in der Synagoge und in der Moschee.“ Auch wenn Kirche und Religion nicht zur Wahl stehen, jedenfalls nicht auf der Ebene der parlamentarischen Demokratie, so ist es aus staatspolitischer Verantwortung doch wünschenswert, dass sie sich mit ihren sozialethischen Prinzipien in die politische Debatte einbringen und mit ihrem gelebten Wertekodex ein Klima und eine Kultur der Rücksichtnahme, des Respekts und der Wertschätzung schaffen. Insofern hat das Wort vom „Kulturkampf“ – gerade gegenläufig zu dem historischen Zurückdrängen des kirchlichen Einflusses auf die Gesellschaft – seine Berechtigung. Dass die christlichen Werte einer pluralen, toleranten, menschen- und flüchtlingsfreundlichen Gesellschaft auch weiterhin prägend sind und die Kirchen, selbst da, wo sie einem schleichenden Substanzverlust unterliegen, ihre dienende Funktion als „Kitt der Gesellschaft“ behalten, insbesondere vor dem Hintergrund des Erstarkens säkularer Kräfte, die einer gemeinwohlorientierten Verantwortungsethik zunehmend eine populär-populistische Eigennutz-Mentalität entgegenstellen. Wenn es konkret um die angesprochenen Themen und ganz grundsätzlich um die Wertebasis unserer politischen Kultur geht, dann haben die Kirchen ein gewichtiges Wort mitzusprechen, und es ist legitim, dass sie ihre sozialethischen Prinzipien in die politische Debatte einbringen. „Wertevermittlung“, so Thomas de Maizières, „ funktioniert nur, wenn diese Werte und Normen in Vorbildfunktion gelebt werden - und zwar von uns allen." Daran müssen sich auch die Kirchen und ihre Repräsentanten messen lassen.
Die Berechtigung, ja das Gebot politischer Stellungnahme, wo es um christlicher Wertmaßstäbe geht, gilt auch im Blick auf die großen globalen Herausforderungen, und es ist ermutigend, mit Papst Franziskus einen religiösen Führer und eine moralische Weltautorität zu haben, der unbeirrt den Finger in die Wunde legt: der die zutiefst ungerechten, skandalösen Verhältnisse anprangert, der dem Schrei der Erde und dem Schrei der Verlassenen dieser Erde Gehör verschafft und selbst dem (vermeintlich) mächtigsten Mann der Welt mit seiner sozialökologischen Enzyklika Nachhilfe erteilt. Vor der staunenden Weltöffentlichkeit bekommen die Prinzipien der katholischen Soziallehre in den Worten und Taten des Papstes eine unvermutete Aktualität, überraschend wohl auch deshalb, weil Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist auf Gottesdienst und Gebet, Predigt und Katechese reduziert wird, während die sozialpolitische Sprengkraft des Evangeliums, wie es in einem Buchtitel in den USA heißt, weithin das bestgehütete Geheimnis der Katholischen Kirche bleibt („Catholic Social Teaching: Our Best Kept Secret“, Orbis Books, 2003 ). Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich, noch ganz unter dem Eindruck der Schrecken des Nationalsozialismus, der erschütternden systematischen Judenvernichtung und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs vor allem an den christlichen Sozialprinzipen orientiert, „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Insofern ist es nur konsequent, dass der christliche Personenbegriff (Boethius) – „die Würde des Menschen ist unanstastbar“ (Art. 1 GG) - mit seiner Gemeinwohlorientierung und den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität zur zentralen Leitkategorie für das gesamte deutsche Rechtssystem erhoben worden ist, das dem uneingeschränkten Schutz der Menschenrechte verpflichtet ist.
Auf der Grundlage dieser fundamentalen christlichen Werte, die nicht nur Grundlage unseres Grundgesetzes sind, sondern auch tief in unserer Zivilgesellschaft verankert sind, hat sich in Deutschland der freiheitliche Rechtsstaat entwickelt. Wir können mit Recht stolz sein auf das Prinzip der Sozialstaatlichkeit, um die uns andere beneiden. Und das gilt in gleicher Weise für die Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft, in der - anders als im angelsächsischen wirtschaftsliberalen Denken – das Ökonomische immer im Horizont des Sozialen mitgedacht wird, auch wenn wir je und je neu um eine entsprechende Balance kämpfen müssen. Die Gefahr ist immer gegeben, in einen hypertrophen Fürsorgestaat zu verfallen oder allein den Kräften des deregulierten freien Marktes zu trauen, in dem es viele Gewinner, aber noch mehr Verlierer gibt. Auch wenn Soziale Gerechtigkeit kein Selbstläufer ist, sondern immer wieder auf den Prüfstand gehört, dürfen wir doch festhalten, dass auch der wirtschaftspolitische Ordnungsrahmen der Soziale Marktwirtschaft in erheblichem Maß auch zum sozialen Frieden in unserer Gesellschaft beigetragen hat.
Aber diese Werte gilt es heute zu bewahren und zu verteidigen, im Innern wie im Äußeren, auch im Zeitalter der Globalisierung. Denn so nostalgisch-verklärt manche Zeitgenossen an der „schönen kleinen Welt“ festhalten oder sich kämpferisch jenem Leben im „globalen Dorf“ entgegenstellen: als Christen leben wir schon immer in der Dimension der einen Menschheitsfamilie, und unsere Sozialprinzipien müssen heute in der Perspektive des „Weltgemeinwohls" (Edenhofer) neu gelesen und in der Weltgemeinschaft verankert und durchgesetzt werden. In der digital vernetzten Welt wissen wir voneinander; das heißt auch: wir können uns nicht mehr verstecken. Dass es uns hier gut geht und besser geht als in den meisten Ländern der Welt, ist kein Geheimnis. Wer wollte den Armen verdenken, dass sie sich aufmachen in eine bessere Welt? Die weltweiten Wanderungsbewegungen, ja der Aufbruch eine ganzen afrikanischen Kontinents macht uns schmerzhaft bewusst, dass wir unsere ethische Verantwortung nicht auf das nationale Gemeinwesen beschränken können.
Papst Franziskus spricht in diesem Sinn von einem Epochenwandel, nicht nur vor einer ‚Epoche des Wandels’. Das mag harmlos klingen, entfaltet allerdings seine ganze Wucht, wenn wir derzeit erleben, dass die Welt mehr und mehr aus den Fugen gerät. Bernd Ulrich spricht, ebenfalls auf der Titelseite der ZEIT vom 10.8.2017, gar von epochalen Verwerfungen, die alle und jeden unbedingt zur Stimmabgabe, zur persönlichen Meinungsäußerung und zum tatkräftigen Einsatz herausfordern. „Die deutsche Demokratie ist keine gesicherte Institution, sondern erweist sich unübersehbar als das stets gefährdete Ergebnis Tausender täglicher Kämpfe, an allen Fronten greifen die autoritären Kräfte an; die EU wird derweil labil, und sie schrumpft; das atlantische Bündnis ist verunsichert; die Ungerechtigkeit der Welt steht in Gestalt der Flüchtlinge direkt auf der Matte, während die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen doch nicht irgendwann stattfindet, sondern jetzt, sofort, überall.“ Mag Politik, erst recht Außenpolitik, vorzeiten vielleicht etwas für Schöngeister und Schwadroneure gewesen sein ... Im Zeitalter globaler Wechselwirkungen und Bedrohungen gibt es keine Dispens für desinteressiertes Wegducken, auch nicht für ein vermeintlich unpolitisches Christentum. „Was in diesen Jahren passiert, diese völlige Verkehrung der Vorzeichen, ähnelt weniger der schönen kleinen Kulturrevolte von 68, eher muss man es als einen Epochenbruch interpretieren, vergleichbar mit 1918, 1945 oder 1989.“ Starke Worte, die mehr als nur das Gefühl tiefgreifender Verunsicherungen widergeben, sondern die besorgniserregenden realpolitischen Veränderungen einer bis dato so überschaubar und beherrschbar geglaubten Welt skizzieren. Es waren schon einmal die „Schlafwandler“, die in völliger Verkennung der Lage unbekümmert und unerfahren in den Ersten Weltkrieg hinein getaumelt sind. Angesichts also der moralischen Entgleisungen unserer Zeit und der bedrohlichen Umbrüche in unserer globalen Welt: Welche Werte haben wir dem entgegenzusetzen? Mag man es auch für überzogen halten, um moralische Ansprüche und Prinzipien zu streiten, gar Wahlkämpfe zu führen: damit verbunden sind Weichenstellungen, die weit über die gegenwärtige Befindlichkeit hinausreichen. Das Christentum bietet die Blaupause für eine sozial ausbalancierte Welt, Voraussetzung für ein friedliches Miteinander über Grenzen hinweg. Was die Europäer einst in ihrer Hymne besungen haben, bekommt in Zeiten des Epochenwandels einen neuen weltweiten Klang: „Alle Menschen werden Brüder“ resp. Schwestern. Als Christen wissen wir das längst, und es lohnt, sich diesem „Kulturkampf“ zu stellen, national und global: sich der globalen Verantwortung zu stellen und Hand anzulegen für eine unseren Werten verpflichtete Kultur. Die Zeit drängt.