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Europa eine Seele geben. Kirche in Europa im gesellschaftlicher Verantwortung

Am 15. Mai hat der Direktor der Kommende auf Einladung des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden im Vatikan das Konzept der Sozialakademie vorgestellt, mit dem seit 2007 angehende Priester aus Ost- und Mitteleuropa auf ihre gesellschaftliche Verantwortung in ihren Ländern vorbereitet werden. Die Präsentation auf dem Symposium zum 50. Jahrestag der Enzyklika „Mater et Magistra“ ist bei den rd. 250 Teilnehmern aus aller Welt auf großes Interesse gestoßen. Der nachstehenden Veröffentlichung liegt der italienische Originaltext zugrunde; der Vortragscharakter wurde bewusst beibehalten.

1. Die Soziallehre der Kirche. Die gesellschaftsverändernde Kraft des Evangeliums.

Die Narben des Zweiten Weltkrieges überzogen noch weite Teile des Landes, als der damalige Paderborner Erzbischof, Lorenz Kardinal Jaeger, schon 1949 den Mut und die Weitsicht besessen hatte, ein Sozialinstitut für das Ruhrgebiet zu gründen: die Kommende Dortmund. Nach der Katastrophe des Dritten Reiches und der Politik der verbrannten Erde verstand man nur allzu gut, wie unerlässlich es war, sich für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuanfang auf die Prinzipien der Katholischen Soziallehre zu besinnen: dass die Würde des Menschen, wie die Väter des Grundgesetzes in die Präambel schrieben, unantastbar ist - in Verantwortung vor Gott. Dass eine Gesellschaft auf Gerechtigkeit gründen muss, um zu einem dauerhaften sozialen Frieden zu kommen, und dass Werte wie Solidarität, Subsidiarität und die Verantwortung gegenüber der Um-, Mit- und Nachwelt nicht dem Belieben anheimgestellt werden dürfen, sondern als regulative Ideen jedweden politischen und gesellschaftlichen Handeln zugrunde liegen müssen.

In dieser Tradition steht die Kommende auch heute, wenn es darum geht, das gemeinsame Haus Europa mit Geist und Leben zu füllen. Mit ihrer Sozialakademie für Seminaristen aus Ost- und Mitteleuropa hat sie ein Schulungskonzept entwickelt, das künftige kirchliche Führungskräfte auf ihre gesellschaftliche Verantwortung im nationalen und europäischen Kontext vorbereitet.

Dazu vorab drei biographische Vorbemerkungen, auf drei zeitlich versetzte und inhaltlich so ganz unterschiedliche „Widerstandsbewegungen“ hinweisen, an denen – in aller Bescheidenheit – die Sozialakademie später anzuknüpfen sucht:

  • Widerstand gegen das politische System: Einsatz auf sozialpolitischem Terrain
    Ich komme aus einem Land, in dem es immer eine besondere Sensibilität für die Soziale Frage gab: zunächst in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Industrialisierung (es ist die Zeit der ersten Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ , 1891), dann Anfang des 20. Jahrhunderts in der Zeit des Kulturkampfes im Preußen Bismarcks . Es ist das Land der Väter des Kommunismus: Karl Marx und Friedrich Engels. Aber zeitgleich auch der Väter der Soziallehre der Kirche in Deutschland: Menschen wie von Ketteler, Kolping, Hitze, Brandts und anderr, Priester wie Laien, lebendige Sprachrohre des Katholizismus in der Gesellschaft.

  • Widerstand gegen die kommunistische Ideologie: Rückzug in den kirchlichen Binnenraum
    Jahrzehntelang war mein Heimatland als Folge des Zweiten Weltkriegs, von Nazi-Deutschland verbrochen, geteilt in Ost und West: DDR und Bundesrepublik. Auch die Erzdiözese Paderborn wurde in der Folge geteilt. Die einzige offizielle Stimme der Katholischen Kirche in der DDR war die des Berliner Erzbischofs. Die wenigen Katholiken, die der sozialistischen Ideologie Widerstand leisteten, eroberten sich eine gewisse Freiheit, indem sie sich auf den Binnenraum der Kirchengemeinde zurückzogen, ohne die Möglichkeit zu haben, gesellschaftlichen Einfluss auszuüben.

  • Widerstand gegen die säkulare Welt: Rückzug in private und liturgische Frömmigkeit
    Als Regens des Paderborner Priesterseminars und Vorsitzender der Deutschen Regentenkonferenz (bis 2005) habe ich einen signifikativen Wandel in der Mentalität der Seminaristen feststellen können: Im Gefolge der berühmten 68er gab es im Namen der Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen jenen bekannten Widerstand gegen jede Art von Autorität und Bevormundung, auch gegenüber kirchlichen Autoritäten, bin hinein in unsere Seminare. Seit den 90er Jahren lässt sich dann beobachten, wie sich die Seminaristen zunehmend innerkirchlich orientieren, angezogen von der Liturgie und der Tradition, und die sich so dem (gefühlten) Indifferentismus und Relativismus einer postmodernen Welt wiedersetzen, allerdings um den Preis, konstruktiv auf die Gesellschaft einwirken zu wollen.

Ohne die Analyse an dieser Stelle ausführen zu können, scheinen mir die angedeuteten Entwicklungen doch hilfreich, um den Gesamtzusammenhang zu skizzieren, in dem unser Projekt der Sozialakademie zu sehen ist. Dieser Blick auf die geschichtliche Entwicklung mag so einen Zugang eröffnen, um die Mentalität der angehenden Priester im Osten wie im Westen besser zu verstehen. Sei es, um sich gegen die damalige atheistisch-kommunistische Ideologie zu wehren, sei es, um sich der heute verbreiteten liberalistisch-relativistischen Mentalität zu erwehren: die Wirkung ist dieselbe. So geraten die Kirche und insbesondere die angehenden Priester zunehmend in eine antimoderne Haltung der Abkehr von der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft. In der Konsequenz mangelt es der Bereitschaft, Gesellschaft aus dem Geist des Evangeliums und den Werten und der Wahrheiten des Glaubens gestalten und verändern zu wollen, wie es dem Anliegen der Soziallehre der Kirche entspricht.

So kommt es, dass die Päpste von Mater et Magistra bis hin zu Caritas in Veritate die Soziallehre der Katholischen Kirche weiterentwickelt haben, während ihre Botschaft und ihre Leidenschaft für eine „Zivilisation der Liebe“ (Johannes Paul II.) nur begrenzt und zurückhaltend vom Klerus aufgegriffen und mitgetragen worden ist. Es ist dieser Wahrnehmung geschuldet, dass sich in der Kommende die Überzeugung herausbildete, diesem Trend in irgendeiner Weise entgegenwirken zu sollen.

2. Der Europäische Einigungsprozess. Ursprungserfahrung und kirchliches Reformprojekt.

Aber für das Vorhaben der Sozialakademie gab es noch ein anderes Motiv als Folge des Kairos‘ der jüngeren Zeitgeschichte: den Europäischen Einigungsprozess. Nach dem Fall der Berliner Mauer kann Europa endlich seine ursprüngliche Bestimmung wiederfinden, indem es sich auf seine ursprünglichen kulturellen und religiösen, sprich jüdisch-christlichen Wurzeln besinnt und sich von dorther inspirieren lässt. Doch der Einigungsprozess innerhalb der Europäischen Union vollzieht sich vor allem unter dem Diktat der Ökonomie, des Wettbewerbs und der Öffnung der Märkte. Das Europa der Werte, das aus dem gemeinsamen christlichen Erbe erwächst, gerät dagegen ins Hintertreffen. Neue Mauern des Misstrauens werden hochgezogen; Nationalismus und Protektionismus feiern fröhliche Urstände. Dagegen schwinden das Gefühl der Solidarität und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, auf nationalem wie globalem Niveau.

Das bekommen insbesondere die Länder aus der ehemaligen Sowjetunion zu spüren, nun endlich von der Vorherrschaft des Sozialismus befreit. Von den neuen Verbündeten in Europa oft schändlich alleingelassen in dem Bemühen, die Schatten der Vergangenheit abzuwerfen und die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der politischen Union zu schaffen, haben die Länder Osteuropas in den zurückliegenden zwanzig Jahren Beachtliches geleistet zum Aufbau neuer demokratischer Strukturen.

Die in weiten Teilen auf den Weg gebrachten Gesetzes- und Verfassungsreformen nötigen den allergrößten Respekt ab, auch wenn der Umbau der Wirtschaft oft mit sozialen Ungleichgewichten und Ungerechtigkeiten verbunden war. Vor allem aber erleben die Zivilgesellschaften Ost- und Mitteleuropas mit dem Anschluss an den Westen eine geistig-moralische Wende, die nicht in jeder Hinsicht zum Guten und Besseren führt. Denn die Eroberung der Freiheit hat ihren Preis, insofern man sich im Zeitalter der sozialen Netzwerke (web 2.0)und der globalen Kommunikation und Interaktion nicht vor den Einflüssen der postmodernen Welt abschotten kann. Das Internet und seine Inhalte kommen überallhin, und die „Generation Facebook“ ist weltweit vernetzt. Die wechselseitigen ökonomischen, ökologischen, fiskalischen und politischen Interdependenzen sind immens.

Da stellt sich mit neuer Eindringlichkeit die Frage nach der spezifischen Herausforderung und dem besonderen Auftrag der Kirche in diesem sozio-kulturellen Kontext. Wie kann sie Einfluss nehmen auf Welt und Zeit, anstatt sich vom Säkularismus und Indifferentismus überrollen und in die Defensive drängen zu lassen? Ist es nicht an uns Christen, die christlichen Werte wieder in Erinnerung zu bringen und für deren Umsetzung zu werben, unprätentiös und ohne falschen Paternalismus! Müsste es nicht um eine neue Kultur der Verantwortung gehen, um die Wende von einer Gesellschaft des Misstrauens und des Egoismus hin zu einer „Zivilisation der Liebe“, damit Europa wieder auf beiden Lungenflügeln atmen kann! Davon sprach schon Johannes Paul II., der uns die Vision einer erstarkten „Kirche in Europa“ geschenkt hat: Volk Gottes, unterwegs mit einer Mission im Dienst an Gesellschaft und Menschheit! Insofern ist der gegenwärtige Einigungsprozess, da Europa seine wahre Dimension wiederentdeckt, die Stunde der Katholischen Soziallehre; Zeit, sich beim Aufbau des einigen Europa für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen, für Solidarität und Subsidiarität, für die Würde des Menschen und den umfassenden Schutz seines Lebens, von Anfang bis Ende. Mit einem Wort: Botschafter und Überzeugungstäter jener „Liebe in der Wahrheit“ zu sein.

Nach über siebzig Jahren des Schweigens und der Unterdrückung haben auch die Ortskirchen Osteuropas die Freiheit wiedererrungen – und mussten doch im selben Atemzug feststellen, dass auch noch alles zu entwickeln ist. An wen soll man sich wenden und mit welchen Themen und Programmen soll man auf die Gesellschaft Einfluss nehmen? Wie kann sich Menschsein entfalten im Licht der Soziallehre der Kirche? Wo kann man auf Unterstützungen und Ressourcen hoffen? Wo finden sich gültige Erfahrungen, und wie kann man die Fehler anderer vermeiden?

Auf dem Hintergrund langjährigen Bildungsarbeit und dem Bemühen um Implementierung der Prinzipien der Katholischen Soziallehre in Staat und Gesellschaft sahen wir uns als Sozialinstitut herausgefordert, unsere eigene Geschichte, unsere Erfahrungen und Kompetenz in diesen Reformprozess einzuspielen und hierzu die Initiative zu ergreifen.

3. Die Sozialakademie. Europäischer Modellversuch mit Zukunftsperspektive

Ansatzpunkt war die Frage, ob und inwieweit der Klerus in den Ländern Ost- und Mitteleuropas darauf vorbereitet ist, bei den gesellschaftlichen Transformationsprozessen eine Führungsrolle zu übernehmen. Daraus wurde das spezielle Anliegen entwickelt, im Rahmen der Sozialakademie angehende Priester zu fördern, die, fest verwurzelt in Lehre und Sendung der Kirche, sich mit Kompetenz und Konsequenz in den Dialog mit der Gesellschaft einzubringen vermögen. Denn bei der Bestellung des europäischen Hauses braucht es notwendig auch Führungspersönlichkeiten der Kirche, die aus dem ureigenen Interesse und Selbstverständnisses der Kirche bereit sind, sich mit ihrer Wertkompetenz konstruktiv in gesellschaftliche Dialogprozesse einzubringen.

Erste Schritte

Anfang der 90er Jahre hatte der damalige Erzbischof von Alba Julia / Rumänien, Mons. Jakobini, einige seiner Diakone nach Dortmund geschickt mit der Auflage, in der Kommende Deutsch zu lernen. Für die Seminaristen war dies zugleich eine Konfrontation mit dem säkularen Westen, aber auch eine Entdeckung, wie es gelingen kann, unter postmodernen Bedingungen als Kirche authentisch für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft einzutreten; als wirksames Instrument erwies sich dafür die Katholische Soziallehre, wie sie in der Kommende verkündet und umgesetzt wurde. Für die Seminaristen aus dem postkommunistischen Rumänien war dies anfangs ein Kulturschock, insgesamt aber war das Experiment gelungen und erwies sich als tragfähig, wie uns Bischöfe, Regenten und Professoren immer wieder versicherten, so dass es in der Folge zu einer Ausweitung dieser Kontakte kam.

Da die Katholische Soziallehre aufgrund der jüngeren Geschichte in vielen Seminaren und Fakultäten Osteuropas eher vernachlässigt worden war, wurde das Angebot einer Sozialakademie, die Einführung in die Katholische Soziallehre unter postmodernen Bedingungen, gerne angenommen.

Die Anfänge

So fand 2007 eine erste Sommerakademie für Seminaristen aus Ost- und Mitteleuropa unter dem Titel „Europa eine Seele geben“ statt. Dabei handelte es sich um einen Grundkurs der Katholischen Soziallehre im Horizont einer von Christentum inspirierten Sicht Europas. Inhaltlich orientierte man sich vor allem an den programmatischen Enzykliken Johannes Pauls II. “Terzo millennio ineunte” und “Ecclesia in Europa”. Seitdem haben rd. hundert Seminaristen aus zwölf verschiedenen Ländern daran an diesem sozialethischen Grundkurs teilgenommen: aus Mazedonien, Kroatien, Lettland, Polen, Rumänien, Serbien, Slowenien, Ungarn, Ukraine, Tschechien, Deutschland und der Slowakei. Jeder der Teilnehmer präsentierte sich als Repräsentant des eigenen Landes und der eigenen Ortskirche, mit der je eigenen Geschichte, Tradition und Kultur, aber auch mit ihren Wunden, Verunsicherungen und Verstrickungen. Insofern ist die Sozialakademie mehr als nur ein Studienkurs; sie ist eine Lebenswerkstatt mit den konkreten Möglichkeiten, sich auszutauschen und gegenseitig zu bereichern.

Sommerseminar

Bei dem fünfwöchigen Sommerkurs handelt es sich, genau besehen, um ein temporäres, internationales und interkulturelles Priesterseminar, das eine einzigartige Erfahrung von dialogischem Zusammenleben, von Kirche, ermöglicht, aber eben auch eine „Schule“, denn auch gestandene Seminaristen müssen hier lernen, sich selbst je neu ins Spiel zu bringen und den andern in sich aufzunehmen, damit auch seine Art zu denken, zu beten, sich zu geben …

Ich erinnere mich, dass einer der Seminaristen, Marian aus Serbien, bei der Vorstellung seines Landes und seiner Ortskirche einige Fotos mit Powerpoint zeigte und dabei kommentierte: „Was ihr hier seht, ist nicht „Belgrad by night“, sondern das Bombardement unserer Hauptstadt durch die Flugzeuge der NATO.“ In die angespannte Stille hinein, die dann folgte, rief einer der Kroaten: „Dann sag auch, warum sie gekommen sind!“

Man erahnt, was für eine Dynamik, manchmal auch Sprengstoff in dem Miteinander steckt, das je neu dazu herausfordert, brüderlich miteinander umzugehen, sich gegenseitig anzunehmen als Glieder der einen Kirche, je eingewurzelt in ganz unterschiedlichen Nationen, Kulturen und Traditionen. Wie auf politischer Ebene im europäischen Einigungsprozess Unterschiede und Argwohn zwischen Ost und West zu Tage treten, so gibt es natürlich auch Spannungen unter den Seminaristen verschiedener Nationalitäten, genährt von Vorurteilen und Unverständnissen. Da wird die Kirche im Westen des Liberalismus und Säkularismus verdächtigt, während es Vorbehalte gegenüber den östlichen Ortskirchen gibt, wie es um die Balance von Einheit und Freiheit steht (vgl. Gal 5,1; 5,13). Aber genau hier ist auch der Ort, sich von Klischees zu lösen und im täglichen Miteinander mit den gegenseitigen Vorurteilen aufzuräumen. Vor aller Verschiedenheit gilt es das Gemeinsame zu entdecken: „einer in Christus“ (Gal 3,28) zu sein, und im Evangelium die eigene Identität und das Bild der einen Kirche in unterschiedlichen, aber legitimen Ausprägungen zu finden und sich als Pilger auf demselben Weg zu wissen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass sich die Einladung der Sozialakademie direkt an die Bischöfe und Regenten der Ortskirchen richtet, damit diese sich das Anliegen zu Eigen machen und sie ihre Seminaristen und deren Lebenserfahrung in der Werkstatt „Kirche in Europa“ später auch in ihr diözesanes Seminar integrieren. .

Einer der Höhepunkte zum Abschluss der Sozialakademie war immer die Begegnung mit Kardinal Sterzinsky, dem damaligen Erzbischof von Berlin: jener einst in Ost und West geteilten, heute wiedervereinten Stadt und Diözese. Es sei oft schwieriger gewesen, so der Kardinal, Bischof einer wiedervereinten als einer geteilten Stadt zu sein. Denn es braucht Jahrzehnte, bevor Mentalitäten sich ändern und gegenseitigen Vorurteile ausgeräumt werden. Sein ermutigender und leidenschaftlicher Einsatz für die Einheit, allen Widerständen zum Trotz, hat die Seminaristen immer sehr beeindruckt.

Theologische und methodologische Aspekte

Das Konzept der Sozialakademie hat theoretische und praktische Anteile. Zum einen gibt es Studientage mit Referenten der verschiedenen Fachgebiete zum Kompendium der Katholischen Soziallehre, aber auch zu den Sozialenzykliken der Päpste sowie anderer relevanter Texte (z.B. der COMECE und zeitgenössischer Autoren). Diese theoretischen Erkenntnisse müssen dann allerdings einem Praxistest unterzogen werden: auf Exkursionen zu verschiedene Wirtschaftsunternehmen und staatlichen, kirchlichen und sozialen Einrichtungen. Mit Sozialethikern und Führungskräften vor Ort werden dann die Prinzipien der Katholischen Soziallehre und deren Relevanz und Anwendbarkeit in den je konkreten Kontexten diskutiert. Das erleichtert das Verständnis der Sozialprinzipien und der entsprechenden Anforderungen; gleichzeitig muss sich erweisen, ob und wie praxisnah, tragfähig und praxistauglich die Positionen der Kirche sind. Insofern macht es Sinn, sich mit den Eigengesetzlichkeiten der Arbeitswelt, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft auseinanderzusetzen und Kriterien, Interessen und Antworten der Soziallehre in einem konkreten Kontext zu hinterfragen. Da ist es manchmal heilsam, dass eine anscheinend so festgefügte Weltsicht der Wirklichkeit nicht standhält und ins Wanken gerät.. Die Theologische Fakultät Paderborn steht für die wissenschaftliche Betreuung dieses Projekts und bescheinigt den Seminaristen mit dem Siegel des Lehrstuhls für Sozialethik die erfolgreiche Teilnahme (credit points).

Europäische Dimension

Der internationale Charakter der Sozialakademie leitet sich nicht nur von der Zusammensetzung der Teilnehmer her. Integraler Bestandteil der Sozialakademie ist auch, die Dimension Europas für das eigene Selbstverständnis als „Kirche in Europa“ auch unmittelbar zu erschließen. Dem dienen u.a. Exkursionen nach Brüssel und / oder Den Haag. Besuche bei den großen internationalen Europäischen Institutionen wie dem Europaparlament (u.a. bei dem Präsidenten, Prof. Pöttering und weiteren Abgeordneten), der Europäischen Kommission und deren Verwaltung in Brüssel oder dem Ständigen Büro der Europäischen Bischofskonferenzen bei der EU (COMECE) führen unmittelbar vor Augen, wie wichtig die kirchliche Präsenz im politischen und zivilgesellschaftlichen Raum auch auf europäischer Ebene ist, und wie sehr der Beitrag und die Sicht der Kirche im gesellschaftspolitischen Diskurs wertgeschätzt wird. Ähnliches ist auch in Den Haag, der „City of Peace“, zu erleben, wo die Dimension der Menschenrechte und internationalen Strafverfolgung (ICC, EUROPOL u.a.) einen breiten Raum einnimmt.

Spiritualität

Aber die Sozialakademie besteht nicht nur aus Studium. Schon der Auftakt der Sozialakademie fällt mit „Libori“, dem Patronatsfest des Erzbistums Paderborn zusammen, so dass die Seminaristen in die liturgischen Feiern – in der Kathedrale und bei den Prozessionen – einbezogen werden. Mancher der Seminaristen, der das Klischee einer stark säkularisierten westlichen Ortskirche in Deutschland gehütet hat, ist bei seinem Besuch angesichts der vitalen Volksfrömmigkeit irritiert und positiv überrascht.

Die Sozialakademie, die von den Schwestern der Christlichen Liebe in den Räumen ihres Exerzitienhauses in Paderborn beherbergt wird, ist auch in spiritueller Hinsicht ein „echtes“ Priesterseminar mit einem geistlichen Curriculum. Im Zentrum steht selbstverständlich die tägliche Feier der Heiligen Messe, die von den zukünftigen Priestern abwechselnd in ihren Sprachen vorbereitet und gestaltet wird. Konstitutiv für das Kommunitätsleben sind ferner Stundengebet und eucharistische Anbetung sowie die tägliche Meditation, jeweils ausgerichtet am Tagesevangelium und transparent auf die geistliche Dimension der kirchlichen Sozialverkündigung, zugleich geistlicher Bezugspunkt für das persönliche wie das gemeinschaftliche Leben. Bestandteil des geistlichen Lebens sind darüber hinaus Begegnungen und Gespräche mit kirchlichen Persönlichkeiten, Ordensleuten und Bischöfen, ergänzt durch Besuche in geistlichen Gemeinschaften (Benediktinerabtei Königsmünster, Fazenda da Esperanza, Schwestern der Christlichen Liebe). Daneben ist auch Raum für das persönliche geistliche Gespräch sowie Gelegenheit zum Empfang des Bußsakraments in verschiedenen Sprachen.

Eine Besonderheit sind darüber hinaus die wöchentlichen Reflexions- und Begleitungstage, die der spirituell-geistigen Durchdringung des Erlebten dienen. Die Seminaristen erfahren hier eine Stärkung ihrer priesterlichen Berufung und eine Klärung aufbrechender persönlicher Fragen zu Frömmigkeit und Weltverantwortung. Unter Anleitung und Begleitung lesen und meditieren die Seminaristen in Kleingruppen einen Abschnitt der Bibel und erfahren dabei, wie das Wort Licht auf dem Weg ist und Gemeinschaft, Kirche, aufbaut.

Soziale Dimension

Abschluss und Höhepunkt bildet jeweils das einwöchige Sozialpraktikum auf dem therapeutischen Bauernhof für drogenabhängige Jugendliche auf Gut Neuhof in Nauen( bei Berlin). Die Tage des gemeinsamen Lebens, Arbeitens und Betens mit den Jugendlichen fassen in einer sehr persönlichen Erfahrung das Ziel kirchlichen Engagements und christlicher Weltgestaltung zusammen. Im Zusammensein mit Jugendlichen und Erwachsenen, die in Sucht, Kriminalität, Prostitution abgerutscht waren und hier aus der Kraft des Evangeliums und der Gemeinschaft ein neues Leben finden. Jeder der rd. 30 Bewohner hat seine Geschichte und seinen ganz persönlichen Kreuz- und Leidensweg; aber wenn man ihnen zuhört, erfährt man von Lebensgeschichten, die ihren je eigenen Wendepunkt haben, zurück ins Leben – eine geistliche Herausforderung auch für jene, die in der Priesterweihe ihr ganzes Leben in den Dienst Gottes stellen wollen.

Auswertung und Unterstützung

Die Sozialakademie ist schließlich, das soll zum Abschluss deutlich benannt werden, nicht nur ein anspruchsvolles Programm für die teilnehmenden Seminaristen, sondern auch für die Begleiter, denen ein hohes Maß an Dialogbereitschaft, Beratungskompetenz und vor allem Dauerpräsenz abverlangt wird - sieben Tage die Woche. Denn mit dem Eintreffen der Seminaristen aus ganz unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen bekommt das gemeinsame Leben eine ungeahnte Dynamik, die aktiv und konstruktiv begleitet wurden will. Da gibt es auch Momente des Zweifels und der Krise, wie sie in jedem Seminar vorkommen, aber auch des Angenommenseins und der Ermutigung, der persönlichen Bekehrung und tiefen geistlichen Einsichten - unnötig zu sagen, dass solche intensive Begleitung auch menschlich beglückend und persönlich bereichernd sein kann, ein Prozess, der hier beginnt, sich aber oft noch weit über das Ende der Sozialakademie hinaus fortsetzt.

Um der Gefahr einer rein subjektiven und einseitigen Wahrnehmung und Bewertung zu entgehen, war schon gleich nach der ersten Sozialakademie eine breit angelegte Evaluation vorgesehen, die unter der Verantwortung des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, namentlich Erzbischof Mons. Crepaldi, vom 1.-3.10.2007 in Rom (Vatikanstadt) durchgeführt wurde, unter Beteiligung von Seminaristen und Ausbildungsverantwortlichen aus verschiedenen Ländern sowie Vertretern beteiligter Institutionen wie COMECE (Brüssel) und RENOVABIS. Umso dankbarer macht uns die uneingeschränkte Wertschätzung, das Verständnis und großzügige Unterstützung, ausdrücklich auch durch den Päpstlichen Rat, wie sie der derzeitige Sekretär des Päpstlichen Rates, Erzbischof Toso, in einem Schreiben an die Seminaristen der letzten Sozialakademie bekräftigt hat: „Die Ausbildung der Seminaristen im Licht der Soziallehre der Kirche ist sehr wichtig. Denn es sind die Priester, die den Laien die sozialen Werte der Lehre der Kirche nahebringen. Diese Werte und Prinzipien des sozialen Lebens müssen der Kompass des Engagements der Laien in der Gesellschaft sein.“ Unser Dank gilt der ideellen wie finanziellen Unterstützung von Institutionen, Organisationen und Stiftungen wie des Hilfswerkes RENOVABIS, das auch in den Schulungskurse selbst die eigenen Kenntnisse und Erfahrungen mit den Ortskirchen in Osteuropa einbringt. Die großzügige Unterstützung ermöglicht es uns, die Sozialakademie für die Seminaristen kostenfrei anzubieten.

Andris Jaksis aus Lettland schreibt: „In der Sozialakademie habe ich die Caritas und den sozialen Einsatz der Kirche in Deutschland kennen gelernt. Das wäre auch für unsere Ortskirche ein Modell. Ich möchte allen Seminaristen empfehlen, an dieser Schule teilzunehmen und eine globale Vision der Kirche in Europa zu gewinnen. Es sind viele persönliche Kontakte entstanden, die dazu helfen, sich gegenseitig zu bereichern. Das ist genau der Weg, um Europa eine Seele zu geben.“

Internationales Netzwerk

Mit der Rückkehr in die Diözese und ins eigene Priesterseminar ist die gemeinsame Erfahrung der Sozialakademie noch nicht zu Ende. Mittlerweile haben die Alumni der bisherigen Teilnehmer der Sozialakademie ein Netzwerk gebildet. So kam es im August 2010 zu einer ersten Alumnitagung zur Gründung der „Weggemeinschaft Sozialakademie“. Es ist das Wort Gottes, gelebt und kommuniziert unter uns, wie es auf der Fazenda da Esperanza erfahren und gelebt wird – der Geist, in dem Europa letztlich seine Seele findet. Damit diese Erfahrung des Lebens auch nach dem Ende der Sozialakademie fortdauert, ist u.a. eine Internetplattform entstanden, ein Netzwerk, das uns in Ost- und Mitteleuropa verbindet. Dieses digitale Kommunikations- und Dialogforum trägt dazu bei, die Vision eines christlichen und geeinten Europas unter uns lebendig zu halten und den Austausch von Erfahrungen, Informationen, Initiativen und Projekten zu erleichtern, so auch beim Weltjugendtag in Madrid,

beim Treffen unserer „Weggemeinschaft“: Seminaristen und Alumni der Sozialakademie, mittlerweile Priester in ganz Osteuropa, zusammen mit den Jugendlichen aus ihren Pfarreien: „Generation Europa – vereint im Geist“. - Auch das nächste Alumni-Treffen ist schon geplant, auf Einladung des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, vom 4.-8. August 2012 in Castelgandolfo/Rom: „Für eine Kultur der Verantwortung. Das Wort Gottes schafft Gemeinschaft und verändert die Welt”.

Die Pflanze der Sozialakademie ist noch klein, wohl eher noch ein Samenkorn. Aber wir sind zuversichtlich, dass dieses Pflänzchen wachsen und reifen kann, wenn es Gott gefällt, so dass es dazu beitragen kann, dass Europa seine christliche Identität wiederentdeckt und anfängt, auf beiden Lungenflügeln zu atmen.