„Nicht Räume besetzen, sondern Prozesse gestalten“. Plädoyer für eine geistlich gegründete, weltgewandte, zukunftsorientierte Kirche
„Vielleicht noch nie hat die Kirche so sehr das Verlangen verspürt, die sie umgebende Welt kennen zu lernen, sich ihr zu nähern, sie zu verstehen, zu durchdringen, ihr zu dienen, ihr die Botschaft des Evangeliums zu bringen, gleichsam um ihr nachzugehen in ihrer raschen und fortwährenden Wandlung. Und das so sehr, dass einige befürchteten, das Konzil habe ich zum Schaden der Treue, die der Tradition gebührt, allzusehr bestimmen lassen von «einem toleranten und übermäßigem Relativismus gegenüber der äußeren Welt , der ständig fortschreitenden Geschichte, der kulturellen Modeströmung».“ (Paul VI., Schlussrede auf dem Konzil 7.12.1965) Paul VI. hält dagegen, dass sich die Kirche den Menschen von heute gegenüber zu einer Haltung des Dienens durchgerungen habe: „Die Idee des Dienstes hat eine zentrale Stellung eingenommen“, und zur Erkenntnis gelangt sei, dass, „um Gott zu kennen, man den Menschen kennen muss“.
Wirklichkeit wahrnehmen – und deuten
Wenn das so ist, dann dürfen wir uns auch heute nicht einfach zurückziehen und angesichts des gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts und des fortschreitenden Mitgliederschwunds unsere Wunden lecken und uns selbst bemitleiden. Anstatt defensiv-trotzig die Mauern hochzuziehen ("wir gegen den Rest der Welt"), sind wir vielmehr (vom Geist!) herausgefordert, „wahrzunehmen, was ist“ und "demütig und bescheiden" jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt ( vgl. 1 Petr 3,15). Das Deutungsmonopol haben wir als Kirchen verloren, aber unsere Weltdeutung und Wertorientierung ist nach wie vor gefragt, vielleicht mehr als je zuvor. Mit einem Wort von Erik Flügge: „Es muss die Lust entstehen, eine Veränderung mitzugestalten, statt gegen sie anzukämpfen. Das gilt für jeden Einzelnen von uns selbst.“ (ZEIT, Nr. 19/2018, Beilage: Christ&Welt)
Was bewegt die Welt – und fordert uns heraus?
Als Weltkirche, deren Sendung das Heil der Welt ist, muss uns bewegen, was die Welt bewegt, gerade in Zeiten großer Veränderungen und kultureller Umbrüche. Vor diesem Hintergrund möchte ich an das Wort des Paulus erinnern: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist." (Röm 12,2).
Was sind die Wandlungsprozesse in Gesellschaft, Kirche, Gemeinden und Diözesen – Akademien wie etwa die Kommende. Der Gestaltwandel (metamorphe) dieser Welt und Gesellschaft erfordert eine Umkehr (metanoia), genauer: ein Um-Denken (nous). Mit Gefühlsaufwallungen ist es in diesem Fall nicht getan. Vielmehr braucht es - wieder nach Paulus - den Geist der „Besonnenheit“ (sofrosyne: darin steckt die Wortwurzel von fronesis: Weisheit, Klugheit, Denken, Vernunft). „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." (2 Tim 1,7) Es geht also darum, gesellschaftliche und pastorale Wirklichkeit nüchtern wahrzunehmen und aus dem Geist Gottes zu deuten.
Gesellschaftliche Megatrends – Zeichen der Zeit?
Wenn wir heute nach den "Zeichen der Zeit" fragen, möchte ich mich auf drei Stichworte beschränken, die aber für epochale Umwälzungen stehen und die Kirchen und mithin auch alle Engagierten in ihr ganz elementar herausfordern: Individualisierung, Globalisierung, Digitalisierung.
Diese Trias kennzeichnet und bestimmt natürlich auch das Leben der Kirche, die ja Teil der Gesellschaft ist und sich zugleich als Gegenentwurf zu den zeitgeistigen Strömungen präsentieren muss.
Verantwortete Freiheit
So führt die zunehmende Individualisierung der heutigen Menschen und Kirchenglieder zu einer Pluralität der Lebensentscheidungen.
Als Kirche können wir einen Ordnungsrahmen und Orientierungshilfe bei der persönliche Entscheidungshilfe geben und geistlich-lebenspraktische Begleitung anbieten. So kann es beim Einzelnen auch zu persönlich angeeigneten, gereiften Lebensentscheidungen, die tragfähig sind.
Weltkirchliche Pluralitätserfahrungen
Papst Franziskus öffnet uns eurozentrisch verengten Christen wieder den Blick auf die ganze Kirche und die Menschen in der ganzen Welt. Als Kirche in Europa müssen wir uns an den Gedanken einer symphonischen, „polyzentrischen Kirche“ (Metz) gewöhnen.
Dass dies mit Verlustängsten einhergeht und diesem umfassenden Kirchenverständnis in einer globalen Welt offen oder verdeckt Widerstände hervorruft, gerade auch im binnenkirchlichen Kontext, ist unübersehbar. Wenn die Welt größer wird, wird der eng umgrenzte Raum kleiner, bedeutungsschwächer. Kirche erlebt auch in dieser Hinsicht einen Wandlungsprozess, der sie mehr sie selbst sein lässt: Weltkirche, die die ganze Menschheitsfamilie im Blick hat: alle Kinder eines Vaters im Himmel, untereinander Schwestern und Brüder. Das fordert uns heraus, auch weltkirchlich zu denken.
Dass wir in unterschiedlichen Kulturen leben, unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Gewohnheiten haben, wusste auch schon der Diognetbrief. Denn unsere DNA als Christen ist doch gerade, dass Einheit in Verschiedenheit möglich ist, Einheit und Freiheit keine Gegensätze sind. Das bedeutet freilich ein Ende des Kirchturmdenkens und der Abschied von einem verbürgerlichten Christentum. Die Aufforderung des Papstes, nicht bei sich und unter sich zu bleiben sondern „rauszugehen“, impliziert allerdings auch das Wagnis, sich mit anderen Logiken, Denk-, Lebens- und Erfahrungswelten auseinandersetzen zu müssen, sich ihnen auszusetzen, auch intellektuell.
Wovor also haben wir Angst? Wir haben als Kirche und Christen doch gelernt, mit Fremden umzugehen: „Du wirst den Fremden lieben, denn er ist wie du.“ (Lev 19,34; Übersetzung von Martin Buber). Wenn Christsein also heißt, plurizentrisch zu denken: vom anderen her und auf den anderen zu, in dem ich ein Abbild Gottes erkenne oder zumindest erahne, dann müsste uns eigentlich bewusst sein, dass in einer globalen Welt Christen, erst recht als Glieder einer Weltkirche, die eigentliche Avantgarde sind: als Experten für Begegnung und Beziehung, für Dialog und Dienst – Menschen mit Weltdimension. So erhält der Sendungsbefehl Jesu: „Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15) erst recht in einer globalen Welt seine volle universale Geltung.
Gelebte (Mit)Menschlichkeit
Wenn im Zeitalter der Digitalisierung das Leben immer mehr von Algorithmen bestimmt wird, von selbstprogrammierten Maschinen und anonymen Mächten, dann wächst doch umgekehrt proportional – so lässt sich vorstellen - die Sehnsucht nach menschlichen Beziehungen, nach face to face“- Kontakten. Je unbeständiger und unbehauster der Mensch in seiner Lebens- und Arbeitswelt ist, desto mehr wird doch bewusst, wie sehr der Mensch auf Verlässlichkeit und Beständigkeit angewiesen ist, auf unverbrüchliche Liebe, auf Treue und Vertrauen. Die Frage nach letzten Wahrheiten wird kein Computer beantworten können.
Vor diesem Hintergrund könnte man meinen: die große Zeit der Kirche kommt erst noch, denn hier ist der Ort personaler Annahme und bedingungsloser Zusage, dass der Mensch nicht nur eine Nummer ist, sondern ein Gesicht, eine Geschichte und einen Namen hat: Person im ganz umfassenden Sinn, liebenswürdig und liebesfähig.
Kirche, das haben die vorstehenden Überlegungen vielleicht schon deutlich gemacht, versteht sich von ihrem Wesen her geradezu als Gegenbewegung zu jenen Megatrends der Gegenwart, die in die Vereinzelung, Unbehausheit und Anonymität führen.
Jünger des Neuen Wegs
Angesichts des „Epochenwandels“ kommt der Kirche eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu in dem Bemühen, „eine gemeinsame Kultur der Begegnung und eine globale Zivilisation des Bundes aufzubauen.“ Dazu brauche es „Männer und Frauen – junge Menschen, Familien, Menschen aus allen Berufungen und Berufen –, die in der Lage sind, neue Wege zu entwerfen und gemeinsam zu beschreiten.“ (10.5.2018). Es geht darum, „mit Verantwortungsbewusstsein und Kreativität [...] zu dieser neuen Etappe der Evangelisierung“ beizutragen.
Mit den Worten von Papst Franziskus: „Das Evangelium ist immer neu. Immer. Immer vorangehen mit Kreativität. Die Herausforderung ist die der schöpferischen Treue: der ursprünglichen Inspiration treu sein und gleichzeitig offen sein für das Wehen des Heiligen Geistes und mit Mut die neuen Wege gehen, die er uns vorschlägt“. - Aber, so fragt er weiter: „ Wie aber kann man den Heiligen Geist kennenlernen und ihm nachfolgen? Indem man die gemeinschaftliche Entscheidungsfindung praktiziert. Das heißt, sich um den auferstandenen Jesus, den Herrn und Meister, zu versammeln, um das zu hören, was der Geist uns heute als christliche Gemeinschaft sagt (vgl. Apg 2,7).“ 10.5.2018)
Plädoyer für eine relationale Ekklesiologie
Die Besinnung auf die Gebotenheit einer „relationalen Ekklesiologie“ (Matthias Sellmann) mag auch helfen, die allenthalben spürbare „Krise“ zu überwinden. „Es ist unübersehbar, dass die verfasste Kirche Platz machen muss. Nicht nur oberflächlich betrachtet verliert sie gegenwärtig personelle, ökonomische, juristische und prestigeförmige Ressourcen. Von der Platzmetapher her betrachtet, wird vieles schlicht leerer: Kirchen, Seminare und andere Ausbildungsstätten, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen, Gemeindeheime, Gremien, Jugend- und Sozialverbände.“ (Sellmann) Eines der offensichtlichsten Kennzeichen der gegenwärtigen Pastoralplanung ist das Handeln in der Raumdimension, etwa durch: die Vergrößerung der Pfarreiterritorien, die Umnutzung oder der Abriss von Kirchengebäuden; der Abschied von der Einteilung in ‚territoriale‘ und ‚kategoriale‘ Pastoral ... „»Platz machen müssen« und »viel zu viel Platz zu haben« ist sicher eine empfindliche Kränkung des Christseins und der organisierten Kirche.“ (1)
Es ist erstaunlich, dass Papst Franziskus gerade in dieser Hinsicht immer wieder zu einem Paradigmenwechsel aufruft: »Die Klage darüber, wie barbarisch die Welt heute sei, will manchmal nur verstecken, dass man in der Kirche den Wunsch nach einer rein bewahrenden Ordnung, nach Verteidigung hat. Nein - Gott begegnet man im Heute.«
Und weiter: »Gott zeigt sich in einer geschichtsgebundenen Offenbarung, in der Zeit. Die Zeit stößt Prozesse an, der Raum kristallisiert sie. Gott findet sich in der Zeit, in den laufenden Prozessen. Wir brauchen Räume der Machtausübung nicht zu bevorzugen gegenüber Zeiten der Prozesse, selbst wenn sie lange dauern. Wir müssen eher Prozesse in Gang bringen als Räume besetzen. Gott offenbart sich in der Zeit und ist gegenwärtig in den Prozessen der Geschichte. Das erlaubt, Handlungen zu priorisieren, die neue Dynamiken hervorrufen. Es verlangt auch Geduld und Warten.« (2)
1 Vgl. Matthias Sellmann, „Für eine Kirche, die Platz macht. Notizen zum Programm einer raumgebenden Pastoral“, Vortrag anlässlich des gleichnamigen Kongresses, Bochum, Februar 2017.
2 Antonio Spadaro SJ, Das Interview mit Papst Franziskus (am 19., 23. und 29. August 2013), Teil 2, in: Stimmen den Zeit, HERDER 2013 - Aktualisiert am 18.03.2018