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„Sie schreiten dahin mit wachsender Kraft“(Ps 84,7)

Priester sein in bewegter Zeit

Gedanken zum 40jährigen Priesterjubiläum [1]

Jubiläen sind Ausrufezeichen: Zäsuren, die dazu anhalten, innezuhalten und dankbar aufzuschauen: mit Dank für die zurückgelegte Lebenszeit, um in der Konsequenz des bisher Erreichten auch die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Dies umso mehr, wenn Mitbrüder nach vierzig Jahren priesterlichen Wirkens, schon fast am Ende ihres aktiven priesterlichen Dienstes, danach fragen, wo sie denn persönlich auf der Heiligen Reise ihres Lebens stehen.

Der im Titel aufklingende Psalmvers markiert bereits eine erste Deutungskategorie für den priesterlichen Weg: “Ein Wallfahrtspsalm“, so ist der Psalm überschrieben, und unser Leben als ganzes und unser priesterliches zumal lässt sich ja auch verstehen als ein einziger großer Pilgerweg, unterwegs zu dem „Gott auf dem Zion“, dem Heiligen par excellence, der doch nicht erst am Ende des Weges auf uns wartet, sondern bereits unseren ganzen Weg mitgeht und prägt. Für den, der sich dieser Wirklichkeit seines geistlichen Pilgerweges bewusst ist, klingen die Worte des Psalms wie Musik in den Ohren:

„Ziehen sie durch das trostlose Tal,

wird es für sie zum Quellgrund

und Frühregen hüllt es in Segen.

Sie schreiten dahin mit wachsender Kraft.

Dann schauen sie Gott auf dem Zion.“(Ps 84,7f)

40 Jahre priesterlicher Pilgerweg – damit erreicht man nach dem Vorbild biblischer Wüstenwanderschaft bereits die Schwelle zum Gelobten Land, und es gibt Grund genug, Gott zu danken, der bis hierher geführt hat. Nehmen wir den 40. Weihetag zum Anlass, den zurückgelegten Weg noch einmal zu bedenken: nicht aus Nostalgie, sondern um aus der Kraft der Erinnerung, wie Eli Wiesel einmal formuliert hat, Mut für die Gegenwart und Perspektive für die Zukunft zu bekommen.

Ich möchte den Rückblick gern in zwei Durchläufen gestalten und einen Ausblick hinzufügen:

  • Zum einen im Blick auf die bewegten Zeiten der letzten 40 Jahre, in denen sich der priesterliche Lebensweg konturiert hat: 1968-2008. War es eine Wüstenerfahrung? Und ist der Weg eingemündet in das Gelobte Land? Musste sich der eigene Lebenswandel dem Wandel der Gestalt der Kirche anpassen? Wie galt es, als Priester in den Wechselfällen der jüngeren und regionalen Kirchengeschichte Führung zu übernehmen? Eine Kirchendeutung.
    I. In bewegter Zeit: Kirche, die über den Jordan geht
    Der Gestaltwandel der Kirche und der Stand des Priesters  
     
  • Zum anderen im Rückgriff den Blick gern auf die vierzigjährige Wüstenerfahrung des alttestamentlichen Gottesvolkes richten: Was hat einen Mose eigentlich für diese charismatisch-prophetische Führungsaufgabe und Wegbegleitung qualifiziert? Und wie ist er in seine Aufgabe hineingewachsen, und was könnten wir für unseren Dienst von ihm lernen? Eine Persönlichkeitsbeschreibung.
    II. Mit wachsender Kraft: Volk Gottes, das durch die Wüste geht   
    Die Gestalt des Priesters im Bild des Mose
     
  • Schließlich die Frage an das alttestamentliche wie neutestamentliche Gottesvolk: Sind wir angekommen? Wie lebt sich’s im Gelobten Land? Möglicherweise gibt es auch da noch kleinere Wüsteneinheiten, 40tägige Fastenzeiten etwa – hoffentlich mit österlichem Ausgang. Es ist das Zeitmaß des Weges Jesu: jene heiligen vierzig Tage, ausgespannt zwischen dem Eintauchen in den Jordan und dem Eintreten in die erfüllte Zeit, und es ist nicht anders auch das Zeitmaß der Kirche heute: Leben im Gelobten Land im Hier und Jetzt – im österlichen Horizont der 40 Tage, da der Auferstandene sich den Seinen zeigt.  
    III. Gott schauen: Geistliche Existenz zwischen Verheißung und Erfüllung
    Leben mit dem Auferstandenen in der Fülle der Zeit
     
  • Noch ein Wort zu der Methodik: Formal halte ich mich einfach an das 40-Jahre-Schema, das mir die Wüstenwanderung des Volkes Israel mit Mose, der charismatischen Führungspersönlichkeit an seiner Spitze, geradezu aufdrängt. Dass es sich bei der Zahl „40“ um die Zahl der Vollkommenheit  handelt (Ausdruck für das Weltganze: 4 Himmelrichtungen, multipliziert mit 10), legt den Vergleich mit Ihrer 40jährigen priesterlichen Wirkungszeit nahe.
    Mein Anliegen ist, auf der Folie des Gestalt des Mose aktuelle Fragen kirchlicher Pilgerschaft wie priesterlicher Existenz zu behandeln und aus der Verfrmdung für unsere Fragestellung neue, vielleicht überraschende Einblicke und Erkenntnisse zu gewinnen. Ich hoffe, dass die Gestalt des Priesters, in die Mosegeschichte hineingespiegelt, auf diese Weise an Kontur gewinnt.

 

I. In bewegter Zeit: Kirche, die über den Jordan geht

Der Gestaltwandel der Kirche und der Stand des Priesters

Das Signum unserer Zeit ist, so Habermas, die Unübersichtlichkeit. Alles ist möglich, alles ist machbar, aber es fehlt die große Linie, es fehlen die „großen Erzählungen“ (Neil Postman), die dem Leben Sinn und Halt geben. Die große Freiheit und Ungebundenheit bezahlen wir mit dem Verlust der geordneten Welt, der klassischen Milieus, der Beheimatung in festen kulturellen, ethnischen, religiösen Zusammenhängen. Befreit vom Diktat des „man“ ist der moderne Mensch seltsam ort- und heimatlos, ein Nomade und einsamer Wanderer zwischen den verschiedenen Welten, die alle um ihn werben mit ihren unterschiedliche Ansichten, Lebensstilen, Glücksverheißungen - virtuelle Welten im digitalen Zeitalter mit eingeschlossen.

Wenn alles in Bewegung ist, braucht es festen Boden unter den Füßen,  einen festen Stand, einen sicheren Standpunkt, von dem aus man die vielen Einflüsse, die einströmenden Bilder integrieren, in sich zu einer Einheit auflösen kann: „Inseln der Stabilität“, wie sie Benedikt mit seinen Klöstern in der Zeit der Völkerwanderung geschaffen hat. Seine Botschaft: Lauf nicht hierhin, lauf nicht dorthin: wo du bist, ist bereits das Leben in Fülle – der Himmel ist in dir. Der Himmel ist unter uns.

Wenn alles in Bewegung ist, dann muss man selbst einen festen Stand haben, um nicht mitgerissen, aus der eigenen Verankerung herausgerissen zu werden. Die Kirche – das wandernde Gottesvolk auf dem Weg durch die Zeit, entlang der Geschichte – ist so ein bergender personaler Raum: Ort der Gegenwart Gottes, der nicht nur und nicht erst am Ende der Zeit auf uns wartet, sondern bereits im Hier und Jetzt erfahrbar ist. Kirche –sacramentum mundi – Kirche der Berührbarkeit: sakramentales Zeichen für die innigste Vereinigung Gottes mit den Menschen. Ort wo wir auf unserer je persönlichen Wanderschaft und Sinnsuche, der Suche nach erfülltem und gelingendem Leben ankommen, gefunden haben.

Aber auch die Kirche ist in Bewegung. Auch sie unterliegt dem Wandel der Zeit. Wer könnte davon kompetenter berichten als jene, die auf 40 Jahre Führungsverantwortung in dieser Kirche zurückblicken: 1968-2008. Was waren das für bewegte Zeiten, und wer hätte damals am Weihetag daran gedacht, was in diesen Jahren an An- und Herausforderungen heraufgezogen  ist?! Wer noch einmal an den Ausgangspunkt zurückdenkt, den Tag der Primiz: was hat sich seitdem nicht alles geändert, auch in der Kirche, und auch- wie zu vermuten steht - in den ganz persönlichen Haltungen, Einstellungen, der eigenen Lebenspraxis. Und doch wäre keiner  da, wo er heute ist, hätte er nicht hohe Ideale und klare Prinzipien, Grundüberzeugungen, ein bewährtes Wertesystem und einen Bezugsrahmen, mit dem er all dem Neuen begegnen, es einordnen und so flexibel damit umgehen konnte. Identität und Flexibilität: das macht das Spannungsverhältnis unseres Agierens und Reagierens aus, was immer an Wandel und Veränderung auf uns einströmt. 

„Kirche, die über den Jordan geht“, so beschreibt Christian Hennecke, der Hildesheimer Regens und Leiter der Katechetischen Abteilung im Hildesheimer Generalvikariat, die Kirche unserer Zeit: Kirche, die wie das alttestamentliche Gottesvolk unterwegs ist: aufgebrochen, aber noch nicht angekommen, noch vor dem Jordan, noch nicht sesshaft im Gelobten Land.

Es fällt nicht schwer, jenen Wandel der Kirche in den letzten 40 Jahren grob zu skizzieren – und darin die Priester in ihrer Führungsverantwortung in unübersichtlichem Gelände zu positionieren. Einige grobe Striche müssen reichen:

  • Die Studien- und Seminarzeit der heutigen Priesterjubilare fiel in die Aufbruchsphase des Konzils, die entscheidende Zäsur in der neueren Kirchengeschichte. Die Wochenberichte Mario von Galli’s dürften die Studienzeit und die Phase der kirchlichen und theologischen Sozialisation geprägt haben: die Spannung, die allenthalben in der Luft lag, die großen biblischen, liturgischen, pastoralen Neuerungen, die sich ankündigten und vom Konzil dann einmütig verabschiedet wurden. 
  • Als junge Kapläne kamen sie genau in die Phase des studentischen Aufbegehrens gegen alle unhinterfragten Autoritäten. Vielleicht haben sie selbst den studentenbewegten Refrain mitgesungen: „Hinter Zöpfen und Talaren steckt der Muff von tausend Jahren“. Aber dieses allgemeine Aufbegehren machte natürlich auf vor der Theologie und den kirchlichen Autoritäten halt. Als Kapläne und damit „Kirchenoffizielle“ waren die jungen Priester ja plötzlich selbst eine solche Autorität. In Münster etwa haben die Priesterkandidaten eine lange Nacht hindurch diskutiert und schlussendlich mit knapper Mehrheit entschieden, doch nicht gemeinsam aus dem Borromäum auszuziehen. Sturm und Drang auch in der Kirche.
  • Aber was war das für eine Dynamik, die damals in der Gesellschaft und auch in der Kirche den Rhythmus angab. Die Ständigen Diakone wurden praktisch aus dem Stand „wieder erfunden“, die muttersprachliche Liturgie wurde eingeführt (wer erinnert sich nicht noch an die unübersichtlichen Vorausausgaben zum Gotteslob und zu den sakramentalen Feiern und Riten). In jeder Messe musste man damit rechnen, dass der Priester eigene Orationen und selbstformulierte Hochgebete vortrug.
  • Das alles betraf nicht nur das Gottesvolk als ganzes, sondern insbesondere und an vorderster Front die Priester, die diesen Gestaltwandel der Kirche nicht nur zu erleiden oder zu erdulden, sondern aktiv mitzugestalten hatten. (Ich erinnere mich noch an den schmerzliche Erinnerung eines Studentenpfarrers, der davon berichtete, wie man als Priester bei den Studentengottesdiensten, wo man vor Überraschungen nie gefeit war, irgendwie auf eine gültige Wandlung hinsteuern musste …)
  • Man denke nur an das mit dem vorgerückten Volksaltar und der gewandelten Zelebrationsrichtung implizit gewandelte Priesterbild: vom Vorbeter der Gemeinde, der dem Herrn der Kirche seinen Mund, seinen Gestus … schenkte, zum Moderator, Animator, Inspirator der Gemeinde, der als „Leiter“ bei der „eucharistischen Versammlung“, wie die heilige Messe mit einem Mal hieß, den Vorsitz hatte und – mit einer 180 Grad - Drehung – plötzlich in all die Gesichter blickte, die ihm bislang im Rücken saßen: In all jene Gesichter, so der wieder entdeckte Grundauftrag des Priesters, sollte jetzt das Evangelium verkündigt werden. Mit dem pastoralen Grundauftrag wurden zugleich viele zentrifugale Kräfte freigesetzt, verbunden mit der Mühe, immer wieder selbst zur geistlichen Mitte des eigenen priesterlichen Tuns und Seins durchzustoßen und die Gemeinde und die einzelnen Gläubigen dorthin mitzunehmen.
  • Im Laufe der Jahre dann verlangsamte sich der Aufschwung, in die quirlige Dynamik kam allmählich – endlich – wieder Ordnung hinein. Vieles aus der „alten Zeit“, was keine unmittelbare innere Plausibilität mehr hatte, war einfach weggespült worden. Man denke nur an die qualvolle, weil unverstandene Moralverkündigung vor allem Pauls VI. in einer Zeit der Fortschrittsgläubigkeit und des vermeintlich autonomen Gewissens, an den weitgehenden Ausfall der sakramentalen Beichte, den ungebremsten Auszug so vieler, die sich in der Kirche nicht mehr beheimatet fühlten. Ein kolossaler Abbruch an Kirchlichkeit.
  • Aber es gab zeitversetzt auch die Gegenbewegung der 80er Jahre: Man erinnere sich noch an den Freiburger Katholikentag 1978 und an die folgenden „Katholikentage der Jugend“ (Berlin, Düsseldorf, München). Das Konzil der Jugend in Taizè und die Weltjugendtage zeigten und zeigen der Welt ein anderes, junges Gesicht der Kirche; das Aufblühen der neuen geistlichen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen geben die Suche nach intensiver Glaubenserfahrung wieder und lassen erkennen, dass nach der Protestbewegung der „Kirche von unten“ die geistliche Erneuerung der Kirche maßgeblich auch von Laien, „von innen“, mitgetragen wird. Nachdem in den 70er Jahren bereits das Sterbeglöckchen in unseren Priesterseminaren angestimmt worden war, gab es kurz darauf (zwischen 1985-95) unvorhergesehen einen richtigen Boom an Priesterberufungen.
  • Schließlich in den letzten Jahren wieder ein Rückgang der Zahlen: Mangelerscheinungen allenthalben: Priester, Ordensleute, Jugendliche, Gottesdienstbesuch, Trauungen, Taufen etc. Derzeit gibt es die Phase äußerer und innerer Restrukturierung. Die jüngste Umstrukturierung der Gemeinden und Diözesen zu neuen Einheiten drückt ein realistisches Wahrnehmen der Zeichen der Zeit aus. Plötzlich spricht man wieder von einer missionarischen Kirche: einer „Kirche des Willkommens“, wie Bischof Wanke in der Arbeitshilfe der Pastoralkommission der DBK „Zeit zur Aussaat“ formuliert hat.
  • Nach Jahren der Klage über den kirchlichen Erosionsprozess und gesellschaftlichen Bedeutungsverlust sind wir – ganz ähnlich dem Modell der verschiedenen Trauerphasen - nach der Phase von chaotischen Gefühlen und der lethargischen Erstarrung schließlich an dem Punkt des realistischen Annehmens der veränderten Situation angekommen, wo wir endlich – um mit dem Psalm zu sprechen – „mit wachsender Kraft voranschreiten“ und damit auch dem Ziel unserer Pilgerschaft näher kommen, Gott zu schauen“, auf den wir zu-leben und der sich bereits bei all unserem Gehen als der Mitgehende erweist.

All diese Entwicklungen haben die Priester an der Spitze der Bewegung miterlebt und mitgeprägt.

„Du sollst an den ganzen Weg denken, den der Herr, dein Gott,

dich während dieser vierzig Jahre geführt hat...

Deine Kleider sind dir nicht in Lumpen vom Leib gefallen,

 und dein Fuß ist nicht geschwollen, diese vierzig Jahre lang“ (Dtn 8,2)

Was hat die Priester getragen in all den Jahren: die je persönliche Berufungserfahrung? Das Versprechen, das jeder Gott einmal gegeben hat – vor 40 Jahren in der Weihe? Gott hat uns seine Verheißung gewissermaßen eingebrannt; da sind unsere alten großen Ideale und die Gewissheit, dass Gott treu ist. Dass er uns nicht im Stich lässt – auch wenn er, um das andere Bild der stürmischen Seefahrt aufzugreifen, unten im Boot unserer Kirche sitzt und schläft. Die Gotteserfahrung, die wir unterwegs immer wieder machen durften, dass er da ist und mitgeht, auch und gerade in den schwierigen Momenten, in Krisenzeiten und Vergeblichkeitserfahrungen?  - Nach 40 Jahren darf man wohl mit Fug und Recht sagen: Er hat uns getragen. Und aus der Erinnerung wächst die Zuversicht, dass Gott auch weiterhin der Wegegott sein wird.

 „Der Herr, euer Gott, der euch vorangeht, wird für euch kämpfen, genau so, wie er vor euren Augen in Ägypten auf eurer Seite gekämpft hat. Das Gleiche tat er in der Wüste, du hast es selbst erlebt. Da hat der Herr, dein Gott, dich auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid, getragen, wie ein Vater seinen Sohn trägt, bis ihr an diesen Ort kamt.“ (Dtn 1, 30-31)

Rückblick, Erinnerung, Dankbarkeit, Zuversicht für den weiteren Weg … Es wäre lohnend, einmal genauer anzuschauen, wie Gott sein Volk über 40 Jahre durch die Wüste getragen und es ins Gelobte Land gebracht hat: 40 Jahre- Zeit der Vollkommenheit, eine fast unendliche Geschichte, und mittendrin Mose, der Führer und Wegbegleiter seines Volkes. Prototyp der priesterlich-prophetischen Führungsgestalt. Den Fokus legen wir dabei auf Mose. Ihn sollten wir fragen, wie man sich eigentlich auf solche Zeiten vorbereitet, und wie man durch solche unübersichtlich lange Wüstenzeiten hindurch kommt – und sein Volk dabei mitnimmt bis an die Schwelle des Gelobten Landes.

 

II. Mit wachsender Kraft: Volk Gottes, das durch die Wüste gehen

Die Gestalt des Priesters im Bild des Mose

Was qualifiziert einen, heute wie damals, Priester zu werden? Die Antwort ist klar: Neigung und Eignung. Berufung und Sendung. Doch wie war es mit Mose, den herausragenden charismatischen Führer seines Volkes? Was hat einen Mose eigentlich für diese charismatisch-prophetische Führungsaufgabe und Wegbegleitung qualifiziert? Und wie ist er in seine Aufgabe hineingewachsen? Was könnten wir für unseren Dienst von ihm lernen? Ich fürchte, er wäre schon beim Eingangs-Check unserer „Eignungsdiagnostik“ gnadenlos durchgefallen. Grund genug, uns einmal näher anzuschauen, was wir von ihm lernen können.

1. Vorgeschichte: Eignungsdiagnostik für Führungskräfte

a) Eignung für geistliche Berufe

Jeder wird sich zweifellos an seine „Vor-Geschichte“ erinnern, Fundament und Voraussetzung für das Wachsen einer geistlichen Berufung. Was hatte einen besonders für den priesterlichen Dienst qualifiziert? Ein gutes Elternhaus, die solide Schulbildung, die aktive Teilnahme am Gottesdienst und am Gemeindeleben? Gab es besondere Qualitäten, die einem den geistlichen Beruf nahegelegt haben: Frömmigkeit, Verlässlichkeit, Bescheidenheit, Intelligenz? Heute kämen sicher noch dazu: Beziehungs-, Kommunikations-, Kooperations-, Team fähigkeit etc. Aber wie sah das damals bei Mose aus?

Eignungstest: ägyptische Phase - die ersten 40 Jahre

Man bräuchte nur den Frage- und Kriterienkatalog der Aufnahmeverfahren unserer Priesterseminare durchgehen und bekäme schon ein differenziertes Bild von unserem hoffnungsvollen Kandidaten:

  • Biographischer Hintergrund: Familie mit Migrationshintergrund, Findelkind, verzärtelter Adoptivsohn des gottähnlichen Pharaos, erzogen zum Kronprinz und Herrscher seines Volkes. Ich habe meine Zweifel, ob wir ihn ohne weiteres in den Vorkurs des Priesterseminars aufgenommen hätten.
  • Ein heutiger psychologischer Test hätte wahrscheinlich einen jungen hitzköpfigen Mann ausgemacht, emotional unausgeglichen, unbeherrscht; es gibt Hinweise auf fehlende Selbstkontrolle und Selbstüberschätzung eines jungen Mannes, der es ja schließlich dann auch fertig gebracht hat, ohne Not in die herrschende Gesellschaftsordnung einzugreifen und einen Sklaven gegen seinen Aufseher zu verteidigen, letzteren sogar zu töten.
  • Spätestens mit dem polizeilichen Führungszeugnis (in den USA gibt es den sog. criminal background check) wäre sowieso heraus gekommen, dass dieser stolze Rächer des (insgeheim seines) Hebräer-Volkes einiges auf dem Kerbholz hat: Tötung im Affekt und auf der Flucht vor der Polizeigewalt.

Eignungstest: midianitische Phase - die zweiten 40 Jahre

  • Als Spätberufener wäre Mose mit seinen legendären 80 Jahren vermutlich schon an der Altersgrenze gescheitert.
  • Zudem hatte er zwar ein religiöses Sendungsbewußtsein, aber er ist erwiesenermaßen religiös nicht sozialisiert: es fehlt eine erkennbare jüdische Gebets- und Gottesdienstpraxis bzw. eine entsprechende Erziehung.
  • Als Schafhirte in der midianitischen Steppe schließlich bringt er auch nicht gerade die beste intellektuelle Vorbildung mit, um in den gehobenen Dienst, geschweige denn in die Führungsetage der Religionsabteilung seines Volkes aufzusteigen.
  • Außerdem: Wer Stimmen hört und Erscheinungen hat - einen Dornbusch sieht, der brennt, ohne zu verbrennen - sollte sich besser in psychologische Behandlung begeben als sich um Führungspositionen im Gottesvolk zu bewerben.
  • Und wer dann noch zum Selbstmordkommando in die Höhle des Löwen, zum Pharao, aufbricht, der ihm nach dem Leben trachtet, und ausgerechnet um die Herausgabe seiner Arbeitssklaven bittet, muss schon ein gerütteltes Maß an Selbstüberschätzung mitbringen, oder er ist ein religiöser Fanatiker oder schlicht grenzenlos dumm. Alle Alternativen indes prädestinieren nicht unbedingt für den geistlichen Beruf.

Oder er hat es mit dem lebendigen Gott zu tun bekommen, für den all die Eignungskriterien für prophetisch-geistliche Führungskräfte nicht gelten. Und das ist bei Mose unzweifelhaft der Fall.  

Halten wir also fürs Erste fest:

  • Wenn Gott rettet und befreit, braucht er Menschen wie Mose, „herausgezogen“ aus dem Wasser und herausberufen aus seinem verpfuschten Leben, das er in der Fremde abbüßt.
  • Mose hat sich seine Führungsaufgabe weder erarbeitet noch ausgesucht. Gott hat ihn gefunden, und er hat sich finden lassen.
  • Aus der Gotteserkenntnis im Zeichen des Feuers erwächst der Auftrag und die Erwählung: „Und jetzt geh! Ich sende dich ... Führe mein Volk!“ (Ex 3,10).
  • Wenn Gott rettet und befreit, bedient er sich derer, die sein Wort und seine Gegenwart in die Gesellschaft hineintragen und die mit ihrem Glauben und ihrer Gotteserfahrung den Menschen vorausgehen. Damals nicht anders als heute. 

Der mit so großen Idealen und hochfliegenden Plänen begonnen hatte, selbstlos und voll guten Willens, siedelt sich in der Mittelmäßigkeit an: eine gescheiterte, eine verkrachte Existenz. Trauriger Endpunkt einer Karriere, die so vielversprechend begonnen hatte und so abrupt an ein Ende gekommen ist.

 Wenn wir mit unserem Eingangstest für den priesterlichen Dienst im Fall des Mose so glorios gescheitert sind, sollten wir uns vielleicht fragen, was wir von Mose lernen können:

  • Es mag Gottes Geheimnis bleiben, warum er es zulässt, dass seine Erwählten nicht nur aufsteigen, sondern auch tief fallen können.
  • Vielleicht liegt es daran, dass Gott für die Verkündigung seiner Botschaft keine Karrieristen brauchen kann, weil sie zu wenig vom Menschen und zu wenig von Gott verstehen.
  • Nicht, dass die Untat in sich einen Wert hätte. Im Gegenteil. Doch erst an einem solchen Tiefpunkt der eigenen Existenz kann die Größe der Gnade Gottes in ihrer Gänze aufgehen, erahnt der von Gott in Dienst Genommene, was Paulus aus eigenem Erleben beschreibt, „dass das Übermaß der Kraft von Gott und  nicht von uns kommt“ (2 Kor 4,7). Man erkennt den Abgrund an Enttäuschung über sich selbst, aber auch das im Letzten nicht vermittelbare Wissen, im Tiefsten von Gott angenommen zu sein, auch da, wo niemand einen trösten, niemand sonst ihn freisprechen kann. „Felix culpa“  – „glückliche Schuld“ - und im Erfassen der eigenen Schuld wie der göttlichen Gnade reift so ein Paulus zu jener Statur des Völkerapostels heran.
  • Natürlich sollte es keiner darauf anlegen, willentlich in die Untiefen seiner selbst herabzusteigen, schon gar nicht, wer Priester werden und andere auf den Weg zum Himmel mitnehmen will. Er soll nur wissen, dass auch Abstürze für Gott kein Hindernis sind, sich seiner zu bedienen und auch auf der ungeraden Linie seines Lebensweges Heilsgeschichte zu schreiben.
  • Das mag auch dem zum Trost gesagt sein, der sich unwürdig fühlt, sich etwa als Priester in Dienst nehmen zu lassen. Doch im geistlichen Leben sind nicht die Ausrutscher oder Aussetzer das eigentliche Thema, sondern die Herausforderung, sich selbst kennen zu lernen und hinter dem Idealbild, das jeder von sich entwirft, an das er selbst glaubt und andere glauben machen will, das wirklichkeitsgetreue Bild seiner selbst zu erkennen - und anzunehmen: „Quod non est assumptum, non est redemptum.“

Es stellt sich auch uns Heutigen die Frage: Können wir tatsächlich als Priester nur solche Strahlemänner brauchen, die gut katholisch sozialisiert, aus intakten familiären Verhältnissen und als geistliche Muskelprotze an die Türen unserer Priesterseminare klopfen? Wie steht es um einen Petrus, der von seiner eigenen Unfähigkeit zutiefst überzeugt ist: „Geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch“? Oder was qualifiziert einen Saulus, der verblendet die Christen verfolgt, bis er selbst nicht mehr weiter sieht und im Nachgang zu seinem Damaskusereignis bekennt: „zuletzt erschien er auch mir, der Missgeburt“. In all jenen Ohnmacht- und Bekehrungsgeschichten klingt die Selbsterkenntnis eines Carlo Carretto an: Ich habe die eigene Ohnmacht berührt und die Allmacht Gottes erfahren. Beides war Gnade.

 

b) Kriterien einer geistlichen Berufung:

Was ist Berufung: ein Erlebnis – eine Idee? Wie geschieht Berufung? Eine ganze Gattung der Pastoral beschäftigt sich damit.

Wenn wir noch einmal genauer auf das Berufungserlebnis des Mose schauen – und uns selbst nach unserer eigenen Berufungsintuition fragen:  Wie war das vor 40 Jahren? Gab es im eigenen Erleben außergewöhnliche Erscheinungen? Waren Stimmen zu hören? Oder war es einfach nur die innere Gewissheit: Gott will mich in diesem Dienst? Subjektive Gewissheit – objektive Zeichen. Ein vocational director aus den USA brachte auf den Punkt, was für Menschen es braucht, die sich ganz in den Dienst Gottes und der Kirche stellen wollen: „burning people“. Das ist gewissermaßen das Stichwort, wenn wir auf die Berufung des Mose schauen:

  • Mose macht die existentielle Gotteserfahrung am brennenden Dornbusch: „Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!“ (Ex 3,5)
  • Aber er geht nicht mit fliegenden Fahnen auf das Angebot Gottes ein: Er weiß um seine Vorgeschichte, seine Begrenztheit; er reagiert eher scheu, skeptisch, widerwillig: “Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe?“
  • Dabei ist noch nicht einmal klar, in wessen Namen er geht. Wie soll er den, den er persönlich erfahren hat, nennen, geschweige denn präsentieren, um sich auf ihn zu berufen? “Wie ist dein Name? Wie soll ich Dich nennen?“ Gottes Name „Ich bin, der ich bin“ ist eine Tautologie: reine Präsenz, reine Anwesenheit: Gott ist – und er tut: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen und bin hinabgestiegen“
  • Mose erhält nur die Zusage, dass Gott mit ihm sein wird. Das muss genügen.
  • Doch Gott überfordert nicht, auch nicht seinen Knecht Mose. Das Problem fehlender Eloquenz wird dadurch gelöst, dass Gott ihm einen Bruder, seinen Bruder, Aaron, zur Seite gibt, der für ihn zum Sprecher wird:
  • So wie Jesus seine Jünger jeweils zu zweit aussendet (weil „zwei“ die kleinste Einheit ist, unter denen die Liebe gelebt werden kann, so Basilius, denn:„wenn du allein bist, wem willst du dann die Füße waschen?“), so schickt JHW auch hier seinem Knecht Mose einen Bruder: Mose ist Träger der Inspiration, Aaron der Mund des Propheten. 

Halten wir noch einmal fest:

  • Der Ort eigener Schuld und Versagens, von Mittelmäßigkeit und innerer Erschöpfung, ist nichts Anderes als der Ort der Anwesenheit Gottes.
  • Der Ort der Gotteserfahrung ist auch der Ort der Sendung. Aus dem An-Spruch erwächst die Inanspruchnahme: „Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!“ (Ex 3,10)
  • Doch der Ort der Schuld will auch der Ort der Gnade sein. Bezeichnenderweise führt der Weg des Mose ihn genau wieder dorthin zurück, direkt an den Ort seiner Niederlage, diesmal allerdings mit göttlichem Auftrag und in göttlicher Vollmacht.

Was können wir für unsere priesterliche Berufung davon lernen?

  • Zunächst erinnert das an Jesu Führungsstil (vgl. Aussendung der Jünger: „Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“  Lk 10,3). Wer in Jesu Namen geht, hat nichts weiter anzubieten als die Frohe Botschaft vom nahenden Gottesreich und als dessen Erstlingsfrucht den Frieden, den Gott schenkt – und der sich doch noch erst durchsetzen muss und letztendlich durchsetzen wird.
  • Wer beauftragt ist, den Glauben zu verkünden, damals wie heute, muss sich exponieren und ist auf das Wohlwollen der Leute angewiesen. In der Radikalform jesuanischer Sendung kann er sich noch nicht einmal auf  Geldbeutel und Vorratstasche abstützen (vgl. auch Mt 10,9-10), um sich die Adressaten seiner Predigt mit sekundären Geschenken geneigter zu machen oder für den Fall des Scheiterns zumindest noch etwas in der Hinterhand zu haben.
  • Ähnliches erlebt Paulus, der davon spricht, wie mühsam der Beruf des Apostels, des von Gott Gesandten ist, wie unsicher und wehrlos sich jener vorkommen mag, der nicht brillieren kann, nicht durch „glänzende Reden oder gelehrte Weisheit“ (vgl. 1 Kor 2,1-5). Dessen Zeugnis vielmehr in dem Gekreuzigten seine Mitte hat. Für solche Botschaften, meist wohl eher als Zumutung denn als Ermutigung empfunden, erntet man keinen Schönheitspreis und keinen Applaus. Das weiß auch Paulus, der „in Schwäche und in Furcht, zitternd und bebend (1Kor 2,3)“ mit dieser Botschaft vom Gekreuzigten antritt.
  • Obwohl theologisch hoch gebildet und ein Meister des geschliffenen Wortes, muss auch ein Paulus es ertragen, abgelehnt oder belächelt zu werden, bei den Juden wie bei den Griechen. „Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte, sondern auf die Kraft Gottes.“ (1 Kor 2,4-5) 
  • Die Apostelgeschichte macht deutlich: Am Ende sind es zwar nicht die Massen, die sich um Aufnahme in die junge Kirche drängen, doch bleiben immerhin einige, die angerührt und angesprochen sind, im Netz der neuen Lehre hängen. Diese sind es, die dann den Kern des neuen Gottesvolkes bilden, das wächst und sich ausbreitet, weil die Gnade des Herrn auf ihnen ruht (vgl. Apg 4,33).
  • Vorgeschichte und Berufungsgeschichte des Mose sind Ermutigung, auch in unserer eigenen Begrenztheit und Gebrochenheit den Auftrag anzunehmen, der von Gott an uns ergeht. Damit beginnt erst das Abenteuer - die Wüstenphase des Mose im hohen Alter von 80 Jahren.

2. Weggeschichte: Ein Programm für Führungskräfte unter extremen Bedingungen

a) Führungsverantwortung in Krisenzeiten

Entscheidungsfindung und Pontifex-Qualitäten

Wir kennen hinreichend, wie viel Mühe Mose hatte, seine Vision aufrecht zu halten und sein Volk auf den Weg ins verheißene Land mitzunehmen.

  • Der Auszug ist geglückt. Gott hat Zeichen und Wunder getan. Er zieht seinem Volk voraus. Doch der Weg zieht sich, und das verheißene Land erschließt sich nicht sofort.
  • Noch ist das Jubellied des Mose nicht verklungen, da hört man schon das Grummeln und Murren des Volkes: Es fehlt am Lebensnotwendigen: an Wasser, an Brot. Die großen Ziele und geistlichen Visionen rücken mit einem Mal weit in den Hintergrund, die Sorge um den Lebenserhalt wie -unterhalt absorbiert jede geistliche Energie und verdrängt alle spirituellen Ideale.
  • Die Mission des Mose gleicht einem Spagat, an der Spitze des Zuges zu marschieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass alle mitkommen, nicht nur die Schwachen und Lahmen, sondern auch die Kritiker und Nörgler, die Launischen und Wehleidigen, die Ideologen und Nostalgiker, die, je länger der Weg wird, desto sehnsüchtiger den sprichwörtlichen Fleischtöpfen Ägyptens hinterher jammern.
  • Nostalgie und Restauration: Gerade in Krisenzeiten wird leicht die Vergangenheit verklärt. Doch damit ersterben auch alle Visionen und Perspektiven und die Motivation, je ins Gelobte Land einziehen zu wollen. Vorwärts oder zurück also? In Zeiten der Rückzugs, der Stagnation und des Mangels nicht anders als zu Exoduszeiten ist eine Gesellschaft besonders anfällig für utopische Versprechungen wie nostalgische Gefühle, die Sehnsucht nach den sprichwörtlichen Fleischtöpfen Ägyptens. „Wir denken an die Fische, die wir in Ägypten umsonst zu essen bekamen, an die Gurken und Melonen, an den Lauch, an die Zwiebeln und an den Knoblauch. Doch jetzt vertrocknet uns die Kehle, nichts bekommen wir zu sehen als immer nur Manna“ (Num 11,5-6). An Mose wie am Priester heute liegt es, die Vision wach zu halten und Gottes Verheißung zu trauen.

All das ist ein Szenario, das auch dem zeitgenössischen Beobachter des Pilgerwegs der Kirche nicht fremd ist.

  • Wie sich doch die Bilder gleichen! Da fragt man sich angesichts der akuten Mangelerscheinungen – an Priestern, an Gläubigen, an Geld –verunsichert, ob die eingeschlagene Richtung stimmt, und es entbrennt alsbald ein Richtungsstreit und eine heftige Grundsatzdiskussion darüber, ob man sich verrannt hat bzw. in welche Richtung man weitergehen soll.[2]
  • Es zieht nach beiden Seiten. Das vielleicht vorschnell und leichtsinnig aufgegebene Vertraute lockt ebenso wie die vielleicht berechtigte Aussicht auf eine bessere Zukunft, die Gott schenken will.
  • Wie soll man in einer solchen Situation, in der die Stimmung zwischen Aufgeregtheit, Zuversicht und Resignation variiert, geistliche und pastorale Führung wahrnehmen? So vielfältig die Fragen, so widersprüchlich die Antworten, Forderungen und Ratschläge.
  • Da braucht es wahrlich „Pontifex“-Qualitäten, Führungspersönlichkeiten mit der Fähigkeit zu integrieren, auszugleichen, Brücken zu bauen, um Kirche und Gemeinde zusammenzuhalten.[3]
  • Anstatt in kurzatmigen Aktionismus oder lähmende Lethargie zu verfallen, mag die Erinnerung an die Erzählung vom Sturm auf dem See (vgl. Mt 8,23-27) dazu anhalten, sich auch in aller bedrängenden Orientierungslosigkeit und Manövrierunfähigkeit auf den zu besinnen, der als Herr der Kirche schon längst an Bord ist und dafür Sorge trägt, dass das Schiff der Kirche nicht untergeht. 
  • In solchen bewegten Zeiten ist geistliche Deutungskompetenz gefordert: je neu danach fragen, was der Geist je heute der Kirche sagt, und dem zu trauen, was Gott heute mit seiner Kirche vorhat: in der verwirrenden Vielfalt der Stimmen und widersprüchlichen Zeichen immer wieder neu nach der Handschrift Gottes fragen: Was möchte Gott in dieser Situation sagen? Lasst uns versuchen, die „Zeichen der Zeit“ (Lk 12,56) im Licht des Glaubens zu deuten! 
  • Das macht es manchmal auch erforderlich, die gängigen und allzu selbstverständlichen Kategorien und unbedacht fortgeschriebenen Denk- und Deutemuster hinterfragen, nach denen allzu eindeutig und immer bereits feststeht, was Gott will und wie er handelt.
  • Das gilt bei Beratungen im Pfarrgemeinderat ebenso wie im persönlichen Einzelgespräch, und nicht anders, wenn es um die großen Linien der Pastoral und Verkündigung oder grundsätzlich um die Marschrichtung der Kirche in den Niederungen der Gegenwart geht.

Das Volk Israel musste erst im Laufe eines mühsamen vierzigjährigen Orientierungsmarsches lernen, dass das Land der Verheißung nicht erst in jenem fernen und geheimnisvollen Kanaan liegt, wo Milch und Honig fließen, sondern bereits dort beginnt, wo Israel sich zum Herrn bekennt und ihn als den lebendigen Gott in seiner Mitte weiß. Dafür braucht es den prophetischen Dienst eines Mose, bedarf es charismatischer, d.h. gotterfahrener Führungspersönlichkeiten, die im Geheimnis Gottes wurzeln und je neu hinweisen, dass das Himmelreich – und was ist das anderes als das Gelobte Land? – bereits nahe (vgl. Mt 4,17; 10,7), ja schon jetzt „mitten unter uns“ (Lk 17,21) ist.

 

b) Arbeitsorganisation und Selbstmanagement

Die Hefekuchenpastoral und das Delegationsrezept

„Führen und Leiten“, so klingen heutzutage die Kurse für das gehobene kirchliche Führungspersonal, in denen man Kommunikation und Arbeitsorganisation, Kooperation und Delegation, Mitarbeiterführung und Krisenmanagement etc. trainiert.

Mose musste ohne solche Kurse auskommen. Das Leben hat ihm diese Lektionen beigebracht, und Mose hat sie gelernt, unter großen mühen übrigens, soweit sich das erkennen lässt. Auf ihn gemünzt müsste man wahrscheinlich eher sagen: „Führen und Leiden“, denn Mose macht den klassischen Fehler, der häufig den pastoralen Neuanfängern unterläuft. Mit allem guten Willen und Können stürzen sie sich in die Arbeit, machen sich unentbehrlich und landen über kurz oder lang in der Überforderung. Man straft sich gewissermaßen selbst, wenn man gut arbeitet. Und weil man so gut arbeitet, ist man so schlecht zu ersetzen. Das Ergebnis ist die sog. Hefekuchenpastoral: Jedes gute Gespräch hat mindestens zwei Folgetermine. Das muss man schon im Anfang mit berücksichtigen. „Die Hefe“ fängt an zu quellen, und am Ende kann man sich nur noch durch Flucht entziehen.

So ähnlich geht es dem Mose.

  • Der Pendeldienst zwischen Gott und seinem Volk ist aufreibend, und irgendwann ist der Punkt erreicht, wo auch ein Mose nicht mehr weiter kann - und nicht mehr weiter will. „Warum habe ich nicht deine Gnade gefunden, dass du mir die Last mit diesem ganzen Volk auferlegst?.. Ich kann dieses ganze Volk nicht allein tragen, es ist mir zu schwer. Wenn du mich so behandelst, dann bring mich lieber gleich um, wenn ich überhaupt deine Gnade gefunden habe. Ich will mein Elend nicht mehr ansehen.“ (Num 11, 11.14-15)
  • Man lerne: Das „Burnout – Syndrom“ gab es offenkundig auch schon in vorchristlicher Zeit, ein klassisches Stressphänomen bei Führungskräften: das Gefühl, dass einem alles über den Kopf wächst. Die Erwartungen und Ansprüche der Leute, für die man sich zuständig und verantwortlich weiß; die hohen Anforderungen und Maßstäbe, die man an sich selbst anlegt; zudem noch das Bewusstsein der Letztverantwortung gegenüber Gott, noch dazu in schier auswegloser Lage
  • Das Selbstmitleid, die Vorwürfe gegenüber Gott, der ihn in diese undankbare Lage gebracht hat, und die unterschwellige Drohung, nicht mehr weiterleben zu wollen, sind jedenfalls klassische Begleitphänomene einer schweren menschlichen und geistlichen Krise. In der Personlabteilung einer deutschen Diözese würde man spätestens jetzt an eine Auszeit in einem Recollectio-Haus denken.
  • Mit anderen Worten: Gott hat mit seinem verdienten Knecht ein echtes Problem, und er löst es schulmäßig - wie heute ein Supervisor oder Therapeut. Gott geht nicht auf die persönlichen Anwürfe ein, sondern versucht das Problem zu versachlichen und einen konkreten Lösungsweg aufzuzeigen: „Ich nehme etwas von dem Geist, der auf dir ruht, und lege ihn auf sie [die 70 Ältesten]. So können sie mit dir zusammen an der Last des Volkes tragen und du musst sie nicht mehr allein tragen.“ (Num 11,16-17)
  • Insofern nimmt die Entwicklung hier einen positiven Verlauf; denn Mose ist lernfähig: Er lässt sich auch von Jitro, seinem heidnischen Schwiegervater etwas sagen: „Entlaste dich und lass auch andere Verantwortung tragen!“ (Ex 18, 22). Ein klassisches Beispiel der Organisationspsychologie. Mose hat wie viele Seelsorger die Tendenz, die eigene Verantwortung und die ihm von Gott anvertraute Sonderstellung zu wichtig zu nehmen. Auch er muss lernen, dass es bei Führungsqualitäten nicht nur auf Charisma ankommt, sondern auch auf Organisation, auf Delegation und Kooperation (vgl. Ex 18). Warum sollte man also im medialen Kommunikationszeitalter nicht auch Anleihen bei denen machen, die professionell etwas von Organisation und Zeitmanagement, von Leitung und Krisenintervention verstehen?!  (Vgl. Gaudium et Spes: bei der Welt in die Schule gehen)

 

c) Spirituelle Kernkompetenz

Doppelte Sensibilität für Gott und die Menschen

Vielleicht hat es nach all dem Vorgenannten den Anschein, ich würde den Priester – im Bild des Propheten – lediglich auf das Management-Format pressen. Indes weit gefehlt! All die Lernerfolge, die Mose sich auf seinem Wüstenweg in puncto Führungskompetenz und Leitungsverantwortung mühsam erarbeiten und aneignen muss, haben durchweg eine eminent spirituelle Komponente und sind beileibe nicht nur strukturelle Hilfen und methodische Anleitungen für den pastoralen Funktionsträger. Ebendies gilt auch für den Priester.

Doch bei all seiner geistlichen Führungsaufgabe stellt sich die Frage, ob Mose über all dem konkreten Tun nicht die Ursprungsintuition seiner Berufung vergisst oder zumindest hintanstellt: dass er aus jenem Geheimnis lebt und dieses Geheimnis wach hält, das am Ursprung seiner Berufung und Sendung stand, die Erfahrung des lebendigen, anwesenden Gottes, dem er Sprachrohr ist und von dem er sich in die Pflicht nehmen lässt im Dienst an seinem Volk. Konkret: wie hält er es mit der spirituellen Kernkompetenz, seiner persönlichen geistlichen Verbundenheit mit JHW – und wie ist er darin transparent für die ihm Anvertrauten? Eine Frage, die nicht minder auch den Priester – erst recht in größeren Aufgaben und gewachsener Leitungsverantwortung – immer wieder umtreiben müsste.

Mose hat da seinen ganz persönlichen Rhythmus entwickelt, gewissermaßen eine Pendelmission: hinauf auf den Berg, hinein in die Wolke – runter zu seinem Volk, dem er göttliche Worte und Gebote, goldene Lebensregeln mitbringt und Gottes Herrlichkeit hineinstrahlen lässt in sein Volk. 

  • „Der Herr und Mose redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden“ (Ex 33,11). Aufstieg auf den Berg, hinein in die lichte Wolke der Gottesgegenwart, und aus dieser Intimität der Gottesbeziehung steigt er immer wieder hinunter zu seinem Volk, Abstieg in die Ebene, hinein in die Probleme, Sorgen, Banalitäten des Volkes. Dabei gehört es zu seiner Mission, die Menschen mitzunehmen, wenn er sich zu Gott hin aufmacht, wie umgekehrt die Nähe Gottes mitzubringen, wenn er zu seinem Volk zurückkehrt.
  • In diesem Rhythmus von Kontemplation und Aktion, geistlicher Einkehr und pastoraler Verantwortung nimmt Mose seine geistliche Führung wahr; doch so sehr ihm diese Aufgabe alles abverlangt, so steigt er doch immer wieder aus, sucht die Nähe Gottes, bespricht sich mit seinem Gott.
  • Das geschieht nicht immer leidensfrei: Immer wieder muss er zwischen Gott und seinem störrischen und kleinmütigen Volk zu vermitteln. Auch im Moment der Krise, da Israel die Gesichtslosigkeit und die Distanz zu Gott nicht mehr länger ertragen kann und sich als Ersatzhandlung ein eigenes Gottesbild, das „Goldene Kalb“ schafft, distanziert er sich nicht von seinem Volk. „Da sprach der Herr zu Mose: Geh, steig hinunter, denn dein Volk, das du aus Ägypten heraufgeführt hast, läuft ins Verderben“ (Ex 32,7) Mose ist in diesem Sinn ein ausgelieferter Prophet, weil er mit mit seinem Volk solidarisch und mit der Geschichte seines Volkes verschmolzen ist.

Nicht anders sieht priesterlicher Alltag, priesterliche Existenz – im Idealfall jedenfalls – aus:

  • Der besondere Auftrag des Seelsorgers besteht darin, wie Mose sein Volk immer wieder ins Gebet und in die persönliche Begegnung mit dem lebendigen Gott zu nehmen. Wie leicht(fertig) lässt sich dem Anderen (ver)tröstend sagen, man bete für ihn, oder man sei einem anderen im Gebet verbunden; aber wie schwer wiegt die Verpflichtung, dieses Versprechen auch einzulösen. Die Menschen verlassen sich darauf. Das klassische „Standphoto“ zur Illustration dieses priesterlichen Gebetsdienstes zeigt Mose mit erhobenen Armen, während das Volk den Kampf gegen die Amalekiter zu bestehen hat: „Solange Mose seine Hand erhoben hielt, war Israel stärker; sooft er aber die Hand sinken ließ, war Amalek stärker“ (Ex 18,11).
  • Wie Mose soll der Priester aus der geistlichen Einkehr und seiner persönlichen Verbundenheit mit Gott Worte der Weisung mitbringen. Aber nicht nur das: „Während Mose vom Berg hinunterstieg, wusste er nicht, dass die Haut seines Gesichtes Licht ausstrahlte, weil er mit dem Herrn geredet hatte.“ (Ex 34,29), und ebenso müsste es auch dem Priester angelegen sein, aus dem vertrauten Umgang mit Gott jenen inneren Frieden mitbringen, der in ihm ruht, jene innere Gelöstheit, ja Heiterkeit, die man nicht antrainieren kann, die auch draußen nicht verborgen bleibt.
  • Es müssen nicht unbedingt Berge sein, die wir aufsuchen, und es müssen auch keine vierzig Tage und vierzig Nächte sein, um uns zurückziehen und Gott zu suchen: Aber es braucht immer wieder am Tag und im Leben jene geistliche Rückzugsbasis, um aus der alltäglichen Geschäftigkeit aus- und zu Gott hin aufzusteigen: in der Stille, im (Stunden)Gebet, in einem Moment der Besinnung. Und es wäre zu wünschen, dass auch dann etwas von jenem Strahlen mitgeht, wenn wir dann in unseren Alltag, in unser Leben, in die Gemeinde und die pastoralen Aufgaben zurückkehren.
  • In der Berufung des Mose spiegelt sich so auch die Berufung des Priesters wider: Mut zum Tabor und Mut zur Fußwaschung, ausgestattet mit einer doppelten Sensibilität für den Herrn und für die Menschen, mit denen er verbunden ist  und denen er nahe sein will. Die Feier der Liturgie hebt die Welt in Gott und verleiht der Verkündigung und Nächstenliebe zugleich jenen göttlichen Glanz, der die ganze Welt erfüllen soll.
  • Der Heilige, den er auf dem „Berg der Verklärung“ erfährt, in der Kontemplation, in der Liturgie, in der Einheit mit Gott, tritt ihm auch in der säkularen Welt entgegen, als „Erstgeborener von vielen Brüdern“ und Schwestern (Röm 8,29), selbst noch in den „Geringsten“ seiner Brüder und Schwestern (vgl. Mt 25,40).
  • Darin besteht die geistliche Übung des Priesters: das Heilige lassen, ohne es zu verlieren; den Heiligen auf dem Berg der Kontemplation verlieren, um ihn in der Ebene, in jedem Menschen wie im Gottesvolk zu entdecken. Das ist Dienst am allgemeinen, königlichen Priestertum [4] Es mag schwer sein, in der konkreten Situation das innere Gleichgewicht zu halten: sich stören zu lassen, wenn man im Gebet ist; in Gott zu bleiben, wenn man mitten im Getriebe ist. Zu der Synthese jener beiden Pole ist Mose ein Leben lang unterwegs, und wie wir aus der Geschichte wissen, ist er schließlich für immer bei Gott angekommen.
  • Weltpriesterliche Identität und Spiritualität ist ihrem Wesen nach von jener Bipolarität von Gott und Welt geprägt und erkennt gerade in dieser doppelten Vermittlung ihren Auftrag und ihre Bestimmung: Gott in Welt bzw. Welt in Gott. Die Welt wartet auf solche Geistliche, die mit dem Heiligen in Berührung sind: die nicht abgehoben sind, sondern mit beiden Beinen auf der Erde stehen und die doch zugleich in ihrer Person über sich selbst hinausweisen auf den, der dem Leben Licht und Richtung und Erfüllung geben kann. 

Von Mose heißt es anerkennend: „vierzig Jahre diente er seinem Volk“ (Midrasch Tannaim), in guten und in schlechten Zeiten. Er entzieht sich nicht der inneren Verpflichtung zum Dienst an der Grundversorgung seines Volkes – mit Wasser und Brot ebenso wie mit Worten der Weisung. Dienst am Wort und Dienst an den Tischen lassen sich nicht auseinanderdividieren, weder zu Mose’s noch zu unseren Zeiten.

 

3. Abbruchgeschichte: Amtsübergabe als Lebensleistung

Vor der Kunst des Loslassens und Anheimgebens

Und noch eine letzte Etappe gilt es zu bedenken: die Eigentliche, auf die alles ankommt. Denn entscheidend ist am Ende doch nicht, wie man in ein Amt hineinkommt, sondern wie man (mit Anstand) wieder herauskommt.

Nach dem Zeugnis der Bibel ist es ein trauriger, aber ein großer Tod des Mose. Er selbst tritt hinter Gottes Werk zurück, ganz frei und losgelöst. Mose hat die Größe zu erkennen und anzuerkennen, dass für ihn die Zeit gekommen ist, seine eigene Grenze anzunehmen und sich von allem zu lösen: von den Menschen, die ihm unterwegs so ans Herz gewachsen sind, von den Zielen, die er sich selbst noch einmal gesteckt hat, auch von dem Guten, das er gewirkt hat. Jetzt, an dieser letzten Grenze, bleibt nur noch eines: dem zu vertrauen,  der ihn sein Leben lang geführt hat. „Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Frommen“ (Ps 116,15), so heißt es im Psalm. Kostbar ist auch jenes letzte Zurückbleiben des Mose, ohne Gram, aber voller Hoffnung.

Daran muss auch der Priester Maß nehmen, wenn es darum geht, abzugeben, loszulassen und zurückzubleiben.         

  • „In manus tuas domine“ - „In deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46), so betet der Priester mit dem Nachtgebet der Kirche. Mit eben diesen Worten hat Jesus am Kreuz sein Leben in die Hände des Vaters zurücklegt. Er ist so gestorben wie er gelebt hat: ganz in und aus der Einheit mit dem Vater. Wer mit denselben Worten seinen Tag beschließt, dem steht jener Akt der Lebensübergabe nicht erst am Ende seines Lebens bevor. In dem Schlussakkord eines jeden Tages -  und einmal des Lebens - klingt vielmehr der Grundton jener Lebensgeste an, die in der Priesterweihe bereits ihren sakramentalen Ausdruck gefunden hat und gleichsam das Vorzeichen vor der Klammer allen pastoralen Tuns und priesterlichen Einsatzes ist. 
  • Es ist jene Wahrheit, auf die der Priester jeden Tag aufs Neue verwiesen wird: dass jedes pastorale Engagement, jeder noch so selbstlose Einsatz für das Volk Gottes, für die Gemeinde, die Kirche, die Menschen  einmündet in jene Lebensgeste, mit der er selbst zurücktritt und alles Mühen, alle Siege und Niederlagen in die Hände des Vaters zurückgibt. Er ist der Herr der Kirche, und er führt sein Volk durch die Zeit, jenem Gelobten Land entgegen, in dem Gott alles in allem sein wird (vgl. 1Kor 15,28; Eph 4,6).
  • Annehmen, loslassen, freigeben können, zurückbleiben - eine lebenslange Aufgabe, die sich jedem stellt, ob er sie bereitwillig annehmen und einüben will oder letztendlich erleiden muss.[5] Wie für Mose, den großen Patriarchen und Propheten seines Volkes, die Zeit kommt, zurückzubleiben und das Volk allein weiterziehen zu lassen, es den guten Händen Gottes anzuvertrauen, so sollte, wem immer geistliche Macht gegeben ist, diesem nicht minder eingedenk sein, dass sie ihm  nur auf Zeit gegeben ist. Diese geistliche Übung wiegt umso schwerer, je mehr einer an Zeit und Kraft, an Liebe und Herzblut in seine geistliche Führungsaufgabe investiert hat, je rückhaltloser sich jemand in die pastorale Aufgabe hinein gegeben und sein Leben für die ihm anvertrauten Menschen eingesetzt und verausgabt hat.
  • Doch es bleibt eine letzte Differenz zwischen der Funktion des Amtes und der persönlichen Identität des Amtsträgers. So bedeutend jemand in der kirchlichen Hierarchie, in der bischöflichen Verwaltung, in der pastoralen Verantwortung auch sein mag, früher oder später steht unweigerlich jenes „In manus tuas, domine“. Ein anderer wird ihn ersetzen und ein Jüngerer wird nachfolgen, und manches von dem, was einer aufgebaut, wofür er gelebt hat, wird mit ihm auch wieder verfallen.
  • All das muss nicht erst im Tod erfolgen; zuvor gibt es viele kleine Abschiede: den Stellenwechsel, die schwere Krankheit, das altersbedingte Ausscheiden; denn „bevor wir durch das Schwert umkommen, müssen wir tausend Nadelstiche erleiden“ (Therese von Lisieux). All diese Nadelstiche des Abgebens, Zurücklassens, Verlierens sind Vorübungen, um in jene geistliche Haltung der inneren Loslösung hineinzuwachsen.
  • Das kirchliche Abendgebet hält die Erinnerung daran wach, dass wir uns in der Priesterweihe nicht der Aufgabe unseres Lebens, sondern dem Herrn des Lebens verschrieben haben. Gott selbst ist der Herr seines Volkes; Mose ist – nur – sein Knecht und wer immer die Führungsrolle im Volk Gottes für eine Weile übernimmt. So bleibt bei allem gebotenen und geforderten Engagement als Lebensaufgabe, sich einzufinden in jenen Grundakkord des eigenen Lebens, die Anerkenntnis und das Einverständnis, das eigene Leben und alles, was es groß gemacht hat, als verdanktes anzunehmen und dankbar dem zurückzugeben, von dem wir es bekommen haben.

So haben wir denn das Volk Gottes ziehen lassen und sind mit Mose, dem Knecht Gottes, auf dem Berg Nebo geblieben: um noch einmal zurückzuschauen auf die 40 Jahre der Wüstenwanderschaft, und im Rückblick vielleicht zu erkennen, dass wir gar nicht in das Gelobte Land jenseits des Jordans hinüberziehen brauchen, weil wir immer schon „mit einem Bein“ in dem Gelobten Land Seiner wirkmächtigen und barmherzigen Nähe waren - und sind. Von da aus können wir gelassen den letzten Vers unseres Wallfahrtsliedes mitbeten: “dann schauen sie Gott auf dem Zion“.

 

III. Gott schauen: Geistliche Existenz zwischen Verheißung und Erfüllung

Leben mit dem Auferstandenen in der Fülle der Zeit

Bleibt noch der Blick auf die Jetzt-Zeit, da unser Menschsein sich gewissermaßen immer zwischen den beiden Polen von Fasten- und Osterzeit bewegt: die 40tägige Fastenzeit, die ebenfalls nicht mit dem großen einsamen Tod des Einen für die Vielen vorbeikommt und die doch einmündet in die österliche Erfahrung der Auferstehungswirklichkeit. Des Durchbrechens der Schallmauer des Todes. “40 Tage hindurch erschien der Auferstandene den Jüngern“, so schreibt Lukas in der Apostelgeschichte, es ist das Zeitmaß der Fülle, der Vollkommenheit –Zeit, die bis heute andauert, wo immer die Kirche und ihre priesterlichen Führungsgestalten den Auferstandenen erkennen und bezeugen. Das ist das Gelobte Land, in dem wir uns bewegen, und Er, der Auferstandene, geht mit. Das bleibt als Wunsch auch noch nach vierzig Priesterjahren, verbunden mit dem irischen Segensgruß, der ebenfalls nicht ohne das Zeitmaß der vollkommenen Vierzig auskommt:

„Sei über vierzig Jahre im Himmel, bevor der Teufel merkt, dass du tot bist.“

 

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[1] Ausführlich siehe: Peter Klasvogt, Angesprochen und herausgefordert, Priesterwerden aus Berufung. Zugänge. Anforderungen. Perspektiven: Bonifatius, Paderborn, 2007.

[2] Vgl. Christian Hennecke: Kirche, die über den Jordan geht. Expeditionen ins Land der Verheissung. Münster: 2006.

[3] Vgl.  „Schreiben der deutschen Bischöfe über den priesterlichen Dienst“ (=Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Die deutschen Bischöfe 49).  Bonn: 24. September 1992.

[4] Vgl. II. Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 10. 28.

[5] Es ist die lebenslange Einübung in das Loslassen, „letting go“, das für den verstorbenen Kardinal Bernardin der Schlüssel dazu war, um das Geschenk des Friedens zu erfahren.  Joseph Cardinal Bernardin, The Gift of Peace, Loyola Press, Chicago, 1997.