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Vision Gerechtigkeit. Welt(um)gestaltung als Anspruch des Christlichen Anmerkungen zur Aktualität der Reformbemühungen von Kettelers

Am 25. Dezember 2011 jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag des großen Mainzer „Sozialbischofs“ Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, des Begründers der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB). Im Vorgriff auf das Ketteler-Jahr 2011 weist der Direktor der Kommende, Prälat Dr. Peter Klasvogt, auf die überraschende Aktualität des großen Sozialreformers, wenn man sein sozialethisches Programm in die heutigen gesellschaftlichen Kontexte hinein übersetzt. Eine Herausforderung für alle, die sich in der Nachfolge Kettelers sehen. 

 

„Vision Gerechtigkeit“, so lautet das programmatische Leitwort der Kommende Dortmund, des Sozialinstituts im Erzbistum Paderborn – ein Motto, heute so aktuell wie zu Zeiten Wilhelm Emanuel von Kettelers, des Politikers und Sozialreformers im Bischofsamt, der auch außerhalb der Kirchenmauern die himmelschreienden sozialen Ungerechtigkeiten der industriellen Revolution angeprangert und der Verelendung der Arbeiter den Kampf angesagt hat. Aber Ketteler beließ es nicht bei markigen Worten und eindringlichen Gebeten. In ihm hatte die christliche Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts einen wortgewandten Fürsprecher und engagierten Vordenker. Doch er forderte nicht nur die Wirtschaft und Politik seiner Zeit zum Handeln heraus, sondern legte auch selbst Hand an, nicht zuletzt durch seine unermüdliche Förderung katholischer Arbeitervereine und der daraus hervorgegangenen Katholischen Arbeiterbewegung (KAB), so dass der dem christlichen Menschenbild verpflichtete Gesellschaftsentwurf keine Utopie blieb, sondern Zug um Zug realisiert wurde.

Wir könnten von Ketteler, gewissermaßen dem Ahnherrn der Katholischen Soziallehre, im Zeitalter von Globalisierung und europäischer Integration auch heute noch einiges lernen. Dazu muss man sich aber zunächst den damaligen zeitgeschichtlichen Kontext vergegenwärtigen. Dies soll im Folgenden anhand von drei Schlagworten geschehen, jeweils in Anlehnung an ein „Wendejahr“. 

I. Proletarier aller Länder vereinigt euch!

Das Revolutionsjahr 1848

Man kann sich das Jahr 1848 wohl nicht bewegt genug vorstellen: Ein Kontinent im Aufruhr. Europaweit kommt es zu bürgerlich-revolutionären Erhebungen gegen die zu dieser Zeit herrschenden Mächte der Restauration und deren politische und soziale Strukturen. Angefacht von der französischen Februarrevolution, greift die revolutionäre Stimmung auch auf die Staaten des Deutschen Bundes, das Reich der Habsburger, über. Es ist die Zeit der industriellen Revolution und die Anfangszeit des modernen Kapitalismus, zugleich der Beginn der Verelendung der Landarbeiter wie des Arbeiterproletariats. Da ist es bemerkenswert, wie dieselbe soziale Frage 1848 von zwei markanten Persönlichkeiten ihrer Zeit ganz unterschiedlich angegangen wurde.

Der Ruf nach gesellschaftlichem Umsturz: Karl Marx und sein Manifest

Am 21. Februar 1848 erscheint in London das Manifest der Kommunistischen Partei (geschrieben im Dezember 1847/Januar 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels). Der Titel war mehr als nur ein Appell: Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Das Programm ließ sich nach Karl Marx in dem einen Wort zusammenfassen: Aufhebung des Privateigentums.

Die gedruckten Einzelbroschüren wurden – welche Gunst der Umstände! – ein bzw. zwei Wochen vor dem Ausbruch der Revolutionen des Jahres 1848 ausgeliefert und breitete sich wie ein Lauffeuer von Paris über ganz Europa aus. Obwohl der Horizont der Kampfschrift entschieden international war, entfaltete sie anfangs ausschließlich in Deutschland Wirksamkeit. Die Erstausgabe des Manifests wurde innerhalb weniger Monate dreimal nachgedruckt; in der Deutschen Londoner Zeitung erschien es in Fortsetzungen. 

Mit Ausnahme von England und Russland gingen in allen großen europäischen Ländern die Menschen auf die Barrikaden, um gegen die verknöcherten politischen Strukturen zu protestieren. Auch in den deutschen Landen demonstrierten die Massen. Sie forderten politische Mitwirkungsrechte, Freiheitsgarantien, soziale Reformen und nicht zuletzt die nationale Einheit Deutschlands, das damals in Dutzende Teilstaaten zersplittert war. So wurden von Berlin bis Wien die Berufung liberaler Regierungen in den Einzelstaaten (die sog. Märzkabinette) und die Durchführung von Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung erzwungen, die in der Paulskirche der damals Freien Stadt Frankfurt am Main zusammentrat, um eine Verfassung zur Gründung des deutschen Einheitsstaates auszuarbeiten. 

Nach ersten Erfolgen, etwa der Aufhebung der Pressezensur oder der Bauernbefreiung, geriet die revolutionäre Bewegung ab Mitte 1848 allerdings zunehmend in die Defensive; es kam regional zu teilweise bürgerkriegsähnlichen Aufständen, die aber schließlich von überwiegend preußischen und österreichischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen wurden. Die Revolution, von der Marxschen Kampfschrift angestachelt, war in Bezug auf ihre wesentliche Kernforderung letztlich gescheitert. 

Das Programm des gesellschaftlichen Umbaus: Wilhelm Emmanuel von Ketteler und seine Predigten

Im selben Jahr 1848 betrat Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler die Bühne der öffentlichen Auseinandersetzung. Als Kaplan in Beckum und dann als Bauernpastor im münsterländischen Hopsten hatte er das Elend der Arbeiter wie der Landbevölkerung kennen gelernt. Als einer von 585 Abgeordneten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche prangerte Ketteler den Egoismus vieler Besitzender und ihre Kaltherzigkeit gegenüber der Not der Armen an. Als es im September 1848 zu Angriffen auf die Nationalversammlung und zur brutalen Ermordung zweier Abgeordneter kam, hielt Ketteler die Grabrede, die ihn über Nacht in ganz Deutschland bekannt machte. Wenig später, im Oktober 1848, fand in Mainz der erste Deutsche Katholikentag statt. Auch Ketteler war dabei und geißelte die massenhafte soziale Not. Im Advent 1848 schließlich hielt er sechs Predigten im Mainzer Dom und stellte dabei ebenfalls die Soziale Frage in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Aber anders als Marx wollte Ketteler das Eigentum nicht abschaffen, sondern plädierte für den rechten Gebrauch des Eigentums zum Wohle aller, zum „Gemeinwohl“. Päpste haben später von der sozialen Hypothek gesprochen, die auf dem Besitz liegt. Salopp formuliert: Eigentum verpflichtet.

Im Rückblick erscheint es als Glücksfall der Geschichte, dass Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Sohn des Landrats Maximilian Freiherr von Ketteler aus dem Adelsgeschlecht derer von Hüsten, die Politik gewissermaßen schon in die Wiege gelegt worden war. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Staatswissenschaften in Göttingen und Berlin Referendar am Land- und Stadtgericht Münster (1835) verließ Ketteler 1838 aus Glaubens- und Gewissensgründen den Staatsdienst, als der Kölner Erzbischof Droste zu Vischering verhaftet wurde (1837), und nahm das Theologiestudium auf. Zwei Jahre nach jenem denkwürdigen Jahr 1848 war Ketteler Bischof von Mainz, bis zu seinem Tod 1877 die führende Persönlichkeit des deutschen Katholizismus in allen öffentlichen Angelegenheiten, der „Arbeiterbischof“, den die Soziale Frage und die Sorgen und Nöte der Industriearbeiterschaft zeitlebens beschäftigten. Ketteler passte damit so gar nicht in das Bild der antikirchlichen Rhetorik eines Karl Marx, der den „Pfaffen“ (in einem Brief an Engels) vorwarf: „Die Hunde kokettieren (z.B. Bischof Ketteler von Mainz…), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage“. 

Aber Ketteler ließ sich nicht einfach in die Rolle eines „gutmütigen, tumben Büttels der herrschenden Klasse“ drängen, „der die Hoffnungslosen auf das Jenseits vertröstet und damit das bürgerlich-kapitalistische System stabilisiert“, wie der Münchener Erzbischof Reinhard Marx vermerkt; vielmehr setzte sich der Mainzer Bischof immer wieder für die Rechte der Arbeiter ein und förderte die Gründung einer christlichen Arbeiterbewegung. Im Unterschied zu Karl Marx wollte Ketteler das bestehende System nicht umstürzen, sondern umgestalten, was ihm und seinen Nachfolgern mit der Ausprägung zum modernen Sozialstaat heutiger Prägung ja auch gelungen ist. Während das kommunistische System letztlich gescheitert ist, gehören Kettelers Ideen eines Arbeits- und Sozialrechts und der gewerkschaftlichen Selbsthilfe der Arbeiterschaft heute zum Grundbestand des modernen Sozialstaats. Wie Marx war Ketteler gegen jede Form des primitiven und grenzenlosen Kapitalismus, doch wollte er das marktwirtschaftliche System nicht abschaffen, sondern sozial weiterentwickeln. Ihm war es wichtig, die negativen Auswüchse eines radikalen Liberalismus und Kapitalismus zu bekämpfen, aber „auch die Arbeiter, soweit möglich, an dem, was an dem System gut ist, an dessen Segnungen, Anteil nehmen zu lassen“.

Zu Kettelers Zeiten gab es das große Problem der uneingeschränkten Gewerbefreiheit und des „ehernen Lohngesetzes“ (Lasalle), was die totale Abhängigkeit und soziale Isolierung der Arbeiter zur Folge hatte. Unter der Faszination der industriellen Massenproduktion zu immer billigeren Preisen ging der Blick für den Menschen, seine Würde und den Wert der Arbeit verloren. Dagegen setzte Ketteler den Gedanken der Solidarität und dachte dabei an eine genossenschaftlich verfasste Gesellschaft, in der die Menschen füreinander sorgen und haften (Sozialversicherung, Gewerkschaften und Arbeitervereine, Arbeitsschutzgesetze). Im Blick auf die Betriebe und Unternehmen forcierte er die Idee der „Produktivassoziationen“, das heißt der Gewinnbeteiligung und Teilhabe der Arbeiter am Geschäftsbetrieb – erstaunlich moderne Gedanken, die auch heute ihren Platz in der Soziallehre der Kirche haben. 

Machen wir also einen Zeitsprung in die Gegenwart.

II. Wir sind das Volk!

Das Wiedervereinigungsjahr 1989

Wir sind das Volk“, so skandierten die Massen auf den Leipziger Montagsdemonstrationen, fast schon wie im Revolutionsjahr 1848. Aber diesmal ging es nicht um die Befreiung der verelendeten Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, sondern um die Beendigung realsozialistischer Gängelung und die Bankrotterklärung dirigistischer Monopolwirtschaft. Der Fall der Berliner Mauer ist gewissermaßen als Realsymbol für den Niedergang eines gescheiterten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in die Geschichte eingegangen. 

Auf der Suche nach einem neuen Wirtschaftsmodell: Gorbatschow und der Dritte Weg

Der Kommunismus bzw. Sozialismus, von Karl Marx vor 150 Jahren erträumt, hatte unübersehbar abgewirtschaftet. Damit stellte sich umso eindringlicher die Frage, was an dessen Stelle treten könnte. Die westliche Alternative eines ungezügelten Kapitalismus und Neoliberalismus erschien ebenso wenig verlockend wie menschengerecht. Als Präsident Michail Gorbatschow seine großen Reden zu Glasnost vorbereitete, so vertraute er später in einem persönlichen Vier-Augen-Gespräch Papst Johannes Paul II. an, lagen auf seinem Schreibtisch die Sozialenzykliken der Päpste. Er hätte sich auch bei Ketteler bedienen können. 

Der hatte schon rund 150 Jahre zuvor, in der Anfangszeit des modernen Kapitalismus, die Theorie des Liberalismus bekämpft, wonach der Egoismus als alleiniges gesellschaftliches Ordnungsprinzip fungieren und der ungezügelte (Konkurrenz-) Kampf aller gegen aller - von Gottes „unsichtbarer Hand“ geleitet (Adam Smith) – auf wunderbare Weise zum Gemeinwohl führen sollte. Ketteler nennt diese Theorie des (markt)liberalen Wirtschaftssystems ein „Lügenprinzip“, das nur dazu führt, dass die herrschende Klasse (er nennt sie „Partei“) „den Staat für sich ausbeutet“. Originalton Ketteler: „Ein Volk von Egoisten kann nicht eine Gewalt gründen, die es wahrhaft gemeinschaftlich vertritt.“

Aber auch die Illusion des Sozialismus, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, lehnte er – wenn auch ungleich milder – ab, da sie zum Verlust der Freiheit führt. Ketteler erkennt sehr deutlich, dass der Systemwechsel nur durch einen unerbittlichen blutigen Kampf möglich wäre (vgl. die russische Revolution) und mit einem ungebührlich hohem Preis bezahlt würde: dem Verlust der Freiheit. Ein zu hoher Preis, wie Ketteler für sich persönlich jedenfalls in Anspruch nahm: „Wenn nun auch alle Phantastereien Wahrheit würden und alles fett gefüttert würde, in dem allgemeinen Arbeiterstaat, so möchte ich doch lieber in Frieden die Kartoffeln essen, die ich baue, und mit dem Pelz der Tiere mich bekleiden, die ich pflege, und dabei die Freiheit haben.“ 

Wie einst Ketteler, so war auch Gorbatschow auf der Suche nach einem „Dritten Weg“, der die Balance zwischen Einheit und Freiheit wahrt: Einheit, die nicht in Uniformität abgleitet - wie im Sozialismus; Freiheit, die sich nicht - wie im ungezügelten Kapitalismus - auf Kosten anderer bereichert. Wohin der Neokapitalismus angelsächsischer Prägung führt, war ja unlängst in der weltweiten Banken- und Finanzkrise ebenso leidvoll wie eindrucksvoll zu erleben – bis hin zu den Spekulationen gegen den Euro und den Wetten auf den Verfall griechischer Staatsanleihen. Umgangssprachlich hat sich dafür der nicht ganz unzutreffende Begriff vom Casino-Kapitalismus herausgebildet.
 
Demgegenüber hat sich die Soziale Marktwirtschaft, von der Katholischen Soziallehre inspiriert und von den Ordoliberalen Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und nicht zuletzt Ludwig Erhard maßgeblich konzipiert und politisch umgesetzt, als Königsweg erwiesen, auch wenn es immer wieder Versuche gab, sie in neoliberales oder sozialistisches Fahrwasser zu lenken. Von amerikanischen und auch europäischen Partnern insgeheim belächelt, hat sie sich als Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gerade in der jüngsten Krise erstaunlich gut behauptet, auch wenn die Balance zwischen Subsidiarität und Solidarität je neu austariert werden muss. Zwar ist offenkundig, dass das Nach-Gorbatschow-Russland und die Länder der ehemaligen Sowjet-Union die „reine Lehre“ der Sozialen Marktwirtschaft nicht eins zu eins übernommen haben und gerade auch in der Anfangsphase nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Wirtschaftssystems kapitale Fehler gemacht worden sind, doch darf man diese Entwicklung durchaus als späten Sieg des Sozialreformers Ketteler über den Revolutionär Marx interpretieren – allerdings eher als einen Etappensieg, denn von den Ideen Kettelers sind nicht nur die östlichen, sondern auch die westlichen Länder in der Europäischen Union zum Teil noch weit entfernt. Gerade auf dem sozialen Sektor gibt es großen Handlungsbedarf, was etwa die Angleichung gemeinsamer Sozialstandards in der Europäischen Union angeht, und dies nicht nur im Blick auf die neuen Beitrittsländer. 

Europäische Integration statt Osterweiterung: Auf dem Weg zu einer Union

Aber es geht längst nicht nur um Ökonomie und die Macht des Geldes. Die Länder des Ostens, die nach 50-jähriger kommunistischer Vorherrschaft endlich im freien Westen ankamen und um Aufnahme in die Europäische Union baten, bekamen sehr bald die harte Hand der Ökonomie westlicher Prägung zu spüren. Um dem Club der privilegierten Reichen der Europäischen Union anzugehören, wurde von ihnen die Aufgabe gewachsener Strukturen und bewährter Prozesse verlangt: eine erneute Demütigung, nachdem man sich endlich und mit Mühe osmanischer bzw. sowjetischer Vorherrschaft entzogen hatte. 

Der am 30. März 2010 verstorbene Hildesheimer Bischof Josef Homeyer hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass Westeuropa eine historische Schuld abzutragen habe. Denn man könne die endlich befreiten Länder des Südosteuropas doch nicht, wie unterschwellig zu hören war, wie arme Verwandte behandeln, denen man erst einmal westliche Standards beibringen müsse! Statt dessen wäre es doch wohl mehr als angebracht, sie als Brüder und Schwestern willkommen zu heißen, die über Jahrhunderte – geschwächt durch die Brandschatzung Konstantinopels durch den fehlgeleiteten Kreuzzug von 1204 – der Vorherrschaft der Osmanen und der Kommunisten, nach einer kurzer Unterbrechung durch das „Tausendjährige Reich“, nichts entgegenzusetzen hatten! Das Wort von der „Osterweiterung“ der Europäischen Union ist in diesem Zusammenhang verräterisch, das wie selbstverständlich von der Ausdehnung des Westens nach Osten unter ökonomisch-wirtschaftlichem Vorzeichen ausgeht, wenn den Völkern Südosteuropas bedeutet wird, sie sollten erst einmal ihre Wirtschaft in Ordnung bringen, um beitrittsfähig zu sein. Diese als arrogant empfundene Haltung des Westens spricht dem Postulat der Begegnung auf Augenhöhe und dem Gedanken der Brüderlichkeit, wie Ketteler sie eingefordert hatte, Hohn. 

Kettelers Gedanke der Solidarität und der Partizipation der Ausgebeuteten und Entrechteten bekommt in der Herausforderung der europäischen Integration somit eine überraschende internationale Dimension. Sein Grundgedanke der „Produktivassoziationen“ überwindet gerade die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, in Herrschende und Dienende. Die Arbeiter sollen sich zusammenschließen und selbst Anteilseigner ihres Betriebes werden. Auf die europapolitische Ebene gehoben, ginge es um eine neue Wertegemeinschaft, in der alle, Ost und West, zu ihrer neuen Identität finden und Europa damit seine Seele wiedergeben. Dazu schreibt Johannes Paul II. in seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Ecclesia in Europa“ (110): „Die Europäische Union setzt ihre Erweiterung fort. Daran über kurz oder lang teilzunehmen, sind alle Völker berufen, die dasselbe grundlegende Erbe teilen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ausweitung in einer allen gegenüber respektvollen Weise erfolgt: nicht nur durch eine ausgereiftere Durchführung des Subsidiaritäts- und des Solidaritätsprinzips, sondern auch durch die Erschließung und Aufwertung der historischen und kulturellen Eigenarten, der nationalen Identitäten und des Reichtums der Beiträge, die von den neuen Mitgliedern kommen können. Im Integrationsprozess des Kontinents ist es von grundlegender Bedeutung zu berücksichtigen, dass die Union keinen festen Bestand haben wird, wenn sie nur auf geographische und ökonomische Dimensionen beschränkt bliebe; vielmehr muss sie vor allem in einer Übereinstimmung der Werte bestehen, die im Recht und im Leben ihren Ausdruck finden.“ Damit wird jene theologische Formel von der „Universalität der Brüderlichkeit“, von Johannes Paul II. in anderem Kontext gebraucht, zu einer politischen und eminent konkreten Forderung: Beleg für eine Kirche, die sich einmischt, wo es um den Menschen und die menschliche Gesellschaft geht. Aus gutem Grund! 

III. Change! 

Das Krisenjahr 2008

Wir schreiben das Jahr 2008. Es gibt – mehr noch als in den USA - in ganz Europa eine Hoffnungsbewegung, die durch den ersten farbigen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten ausgelöst wird: Change! Damit verbindet sich nicht nur der Wunsch nach einem Regierungswechsel, der Auswechselung der vielen verhassten Bush-Administration. In diesem einen Schlagwort drückt sich die Hoffnung auf ein neues Zeitalters des Dialogs auf Augenhöhe aus, die Aussicht auf eine friedlichere und sozialere Welt und das Ernstnehmen einer globalen Verantwortung angesichts des bedrohten Weltfriedens, einer drohenden Klimakatastrophe und der Risiken und Herausforderungen angesichts einer explodierenden Überbevölkerung der Erde. 

Zeit des Wandels – Weltmacht mit Augenmaß

Yes, we can!, so lautet die hoffnungsfrohe Überzeugung nicht nur der demokratischen Wähler, die Präsident Barack Obama ins Weiße Haus gewählt haben. Der Slogan steht für den erklärten Willen zur Veränderung und die Hoffnung auf einen Mentalitätswechsel im US-amerikanischen Selbstverständnis: der Wandlung vom Weltpolizisten zu einer Weltmacht, sie sich ihrer weltpolitischen Verantwortung bewusst und um ein partnerschaftliches Verhältnis zu den anderen Staaten bemüht ist. Diese ersehnte Wandlung, wenn sie denn geschähe, könnte nicht hoch genug geschätzt werden, so bedroht und bekämpft dieses Konzept von der weltpolitischen Lage wie insbesondere den innenpolitischen Gegnern auch ist. Dies wird in einem gewandelten Stil im Auftreten deutlich, aber auch in konkreten politischen Aktionen, etwa dem Bemühen um weltweite atomare Abrüstung und die - wenn auch ungenügenden, weil innenpolitisch hart bekämpften - Anstrengungen zum Klimaschutz. 

Als Europäer reibt man sich verwundert die Augen, dass in den Vereinigten Staaten des 21. Jahrhunderts noch immer Millionen Bürger ohne Krankenversicherung sind und Migranten ohne Aufenthaltsbewilligung jederzeit wie Freiwild aufgegriffen, eingesperrt und abgeschoben werden können. Dabei bringt die innenpolitisch heiß umkämpfte Gesundheitsreform den Amerikanern am Ende nur das, was schon Ketteler in den 50er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts auf der Agenda hatte: Sozialversicherungspflicht, Krankenschutz, etc. Man wundert sich in Europa, dass die liberale Ideologie bis heute realpolitisch im US-amerikanischen Gesellschaftssystem eine vorherrschende Stellung hat, die jeden Gedanken an soziale Absicherung reflexartig unter Sozialismusverdacht stellt. 

Dabei war schon für Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler klar, dass sich aus der Menschenwürde auch die sozialen Menschenrechte ableiten. Darum hatte er schon im 19. Jahrhundert, als Amerika politisch noch in den Kinderschuhen steckte, das Sozialstaatsprinzip als Verfassungsprinzip gefordert. Ketteler setzte sich insbesondere für die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ein, von ihm als Rechtsprinzip verstanden, nicht als Rechtssatz im Sinne eines einklagbaren Rechtes, was er in einer möglichst breitgestreuten Verteilung des Vermögens und der Nutzung der Eigentumsrechte gewährleistet sah. Beide Ansätze Kettelers verweisen in Richtung einer Sozial- bzw. Gesellschaftspolitik, die die Rahmenbedingungen des ökonomischen Handelns aus anthropologisch-ethischen Prämissen ableitet. 

Wie schwer sich eine US-amerikanische Regierung damit tut, etwa den Finanzmarkt zu regulieren und Ordnungskriterien für eine sich selbst überlassene, von Spekulanten manipulierte Geldwirtschaft aufzustellen, zeigt deutlich, wie aktuell die politische und sozialethische Vision eines Kettelers auch heute noch ist. Während in Europa und insbesondere Deutschland der Umbau des Systems weithin gelungen ist und die freie Marktwirtschaft ein soziales, ordoliberales Gesicht zeigt, trägt der Marktliberalismus angelsächsischer Prägung oft genug die Fratze des raffgierigen, selbstsüchtigen, unsolidarischen Egoisten vergangener Jahrhunderte – der seine Faszination aber auch heute (leider!) immer noch nicht verloren hat. 

Zeit der Neubesinnung - Weltgemeinschaft vor globalen Herausforderungen 

Damit sind wir beim zweiten Ereignis des Krisenjahres 2008, als auf dem amerikanischen Markt die gigantische Hypothekenblase platzte und die Bankenkrise in unserem globalen Dorf binnen Stunden die gesamte Finanz- und Weltwirtschaft in Mitleidenschaft zog. Doch bevor man – wie in der deutschen Öffentlichkeit - gern und extensiv mit dem Finger auf die „Gier der Manager“ und Börsenspekulanten zeigt, sollte man indes fragen, ob nicht auch bei uns der ausgeprägte Egoismus fröhliche Urstände feiert. Denn wenn sich die Großen so offenkundig selbst bedienen, so die medial vermittelte, oft auch verzerrte Wahrnehmung, dann fühlen sich die (verharmlosend selbsternannten) Kleinen dadurch animiert und legitimiert, es ihnen gleich zu tun. 

Ketteler war in dieser Hinsicht, was die Natur des Menschen angeht, eher skeptisch und nüchtern: „Ohne Religion verfallen wir alle dem Egoismus, wir mögen reich oder arm, Kapitalisten oder Arbeiter sein, und beuten unseren Nebenmenschen aus, sobald wir die Macht dazu haben“. Das ist heute nicht anders als vor 150 Jahren, so steht zu fürchten. Wenn wir heute auf breiter Front von einem Werteverfall oder einem Werteverlust sprechen, dann mag man darin auch die Spätfolgen der schleichenden Entchristlichung unserer Gesellschaft und des gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts der Kirchen sehen. Wenn es keine höchste Autorität mehr gibt, an die man glauben kann und vor der man sich rechtfertigen und verantworten muss, ist sich jeder selbst der Nächste. Dann gibt es allerdings nicht nur Gewinner, sondern mehr noch Verlierer.

Aus dieser Einsicht heraus verstand sich Ketteler nicht einfach ein Sozialrevolutionär. Denn die Soziale Frage ging für ihn ursächlich (bis heute!) mit einer eminent geistlichen Krise einher. Darum war der „Arbeiterbischof“ zutiefst der Überzeugung, dass sich aus dem christlichen Glauben sehr wohl Konsequenzen für die Beurteilung und Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben: „Die soziale Frage berührt das depositum fidei“, denn die herrschende Gesellschafts- bzw. Wirtschaftsordnung nach dem Prinzip „aller gegen alle“ war unvereinbar mit den Wertvorstellungen christlicher Anthropologie und Sozialethik. Vor diesem Hintergrund versteht sich Kettelers Forderung eines umfassenden Sozialversicherungssystems: Kranken-, Lebens-, Renten-, Hinterbliebenenversicherung.

Für Ketteler war klar, dass der Kirche eine direkte theologische Verantwortlichkeit zukommt, wo es um die Grundwerte der Gesellschaft geht. „Wenn die Kirche hier nicht zu helfen vermag, dann muss man an einer friedlichen Lösung der sozialen Frage zweifeln.“ Darum sieht er auch die Kirche in der Pflicht, „ex caritate“ zu helfen und kurzfristig die Not zu lindern, wo politische Änderungsprozesse langwierig und schwerfällig sind. Darum wirbt er für die Errichtung von Hospitälern, Konsum- und Kreditvereinen etc. Das hieß aber in der Konsequenz, dass sie sich nicht nur in die Innerlichkeit zurückziehen könne, wo es ihr doch um den ganzen Menschen geht. Zwar befasse sich die Kirche mit dem ewigen Seelenheil der Menschen. „Aber gerade dieses von Christus ihr übertragene Amt kann sie an Millionen von Seelen nicht üben, wenn sie die sozialen Fragen ignorieren und ihr gegenüber sich auf die gewöhnliche hergebrachte Pastoration beschränken sollte“. 

Die Dimension universaler Geschwisterlichkeit. Die Sozialenzyklika Benedikts XVI.

Damit kommt die jüngste Sozialenzyklika in den Blick, auch sie zu einem nicht geringen Teil eine Reaktion auf zeitgeschichtliche Umbrüche und soziale Verwerfungen im Krisenjahr 2008: Caritas in veritate (CV). Papst Benedikt XVI. weist darin auf die Unverfügbarkeit letzter und höchster Werte und Gaben hin, die man sich nicht verdienen, die man sich nur schenken lassen kann. Seine Mahnung zur universalen Geschwisterlichkeit könnte auch aus der Feder Kettelers stammen. 

Wenn Wirtschaftssysteme nur auf Profit, Finanzen und Technik gegründet sind, machen sie die einen zu „Gewinnern“ der Moderne und die andern zu „Verlierern“, nämlich die Schwachen, die „Unnützlichen“, die Ausgegrenzten… Dagegen bekräftigt Benedikt XVI. vor allem den unveräußerlichen Wert des Menschen und seine Würde (CV 18): der Mensch steht im Zentrum des gesamten ökonomisch-sozialen Lebens, nach ihm muss sich jede Form von Entwicklung richten. Wenn die soziale Frage somit zunehmend zu einer anthropologischen Frage geworden ist (CV 75), dann muss angesichts der neuen Herausforderungen auch nach einem neuen Humanismus Ausschau gehalten werden (CV 19). 

Entwicklung, so Benedikt XVI., der damit bewusst einen Schlüsselbegriff der Sozialenzyklika Pauls VI. Populorum Progressio aufgreift, hat immer mit dem ganzen Menschen und ebenso mit allen Menschen zu tun. Dies führe in Zeiten der Globalisierung geradezu zu einer „Explosion der weltweiten wechselseitigen Abhängigkeit“ (CV 33). Die neuen globalen Probleme verlangen auch nach neuer globaler Verantwortung. Um Solidarität auf Weltebene zu erreichen, insbesondere zwischen Industrieländern und in Entwicklung begriffenen Ländern, braucht es daher neue Protagonisten der Globalisierung, braucht es vor allem eine Globalisierung der Solidarität wie der Subsidiarität.  

Diese historisch einmalige Situation der globalen Vernetzung verlangt nach einem weiten Horizont: dem der universalen Geschwisterlichkeit, für Benedikt XVI. die zentrale theologische Kategorie. Er versteht sie als ein effektives Instrument, um die großen Herausforderungen der globalisierten Welt anzugehen: „Die Globalisierung ist ein vielschichtiges und polyvalentes Phänomen, das in der Verschiedenheit und in der Einheit all seiner Dimensionen – einschließlich der theologischen – erfasst werden muss. Dies wird es erlauben, die Globalisierung der Menschheit im Sinne von Beziehung, Gemeinschaft und Teilhabe zu leben und auszurichten“ (CV 42). Die Welt benötigt dringend jenen Geist der Geschwisterlichkeit (CV 20), da die Menschheit doch gewissermaßen eine Menschheitsfamilie ist (CV 53). 

Damit stehen wir am Ende einer Entwicklung, die Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler zu seiner Zeit angestoßen hat. Er darf mit Fug und Recht als Wegbereiter der Katholischen Soziallehre bezeichnet werden, die Papst Leo XIII. mit seinem Sozialprogramm in der Enzyklika Rerum Novarum (1891), der ersten Sozialenzyklika, zusammengefasst hat; und die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) hat auch heute, in einer Zeit wachsender sozialer Spannungen und Disparitäten, eine Mission, die Ketteler ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt hat: Kirche als Anwalt der Menschen – nicht allgemein-abstrakt, sondern konkret in arbeitsweltlichen, sozialpolitischen, wirtschaftsethischen und auch karitativen Bezügen. Aus dem Rückgriff auf Ketteler erwächst die Verpflichtung, seinen sozialreformerischen Anspruch, der sich aus dem Evangelium herleitet, in den gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart einzubringen und ihm Geltung zu verschaffen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat der Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass sie einen Weltauftrag hat, von dem sie sich nicht dispensieren lassen kann. Daran erinnert der Münchener Erzbischof, wenn er den großen Sozialbischof längst vergangener Zeiten würdigt und damit zugleich einen versteckten Hinweis auf den Verkündigungsauftrag der Kirche auch in der Gegenwart gibt: „Ketteler erkannte die Zeichen der Zeit und bekehrte auch viele andere Bischöfe in Deutschland und ganz Europa zu dem Programm der politischen Sozialreform. Er wurde zu einem der prominentesten Verfechter einer umfangreichen Arbeiterschutzgesetzgebung und einer staatlichen Sozialpolitik. Soziale Gerechtigkeit war für ihn fortan nicht mehr bloß eine sittliche Idee, sondern auch ein politischer Auftrag, dem sich die Regierung zu widmen hatte.“ (Das Kapital,172 f.).

Die Vision Gerechtigkeit, so scheint es, ist ein sozialpolitischer Dauerbrenner, zu Kettelers Zeit nicht anders als heute, da sich unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft und angesichts zunehmender prekärer Arbeitsverhältnisse und wachsender Armut die Frage der gesellschaftlichen Teilhabe neu stellt. Neue Fragen verlangen neue Antworten, wobei man gut daran tut, sich der früheren Antworten eines Kettelers zu erinnern und die Grundsätze der (mehr denn je aktuellen) Katholischen Soziallehre im Licht der neuen Herausforderungen neu zu buchstabieren. Das bevorstehende Ketteler-Jahr mag ein Anlass sein, sich neu auf die alten sozialethischen Tugenden zu besinnen und sich mit vereinten Kräften, wie Ketteler dies gewünscht und auch organisiert hat, auch außerhalb der Kirchenmauern für das Wohl des Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stark zu machen. Ich bin mir sicher: Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler würde dies gefallen.