„Von Gott geliebt - Chiara Lubich"
Gott kommt an. Nicht nur an Weihnachten. Manchmal ist es eine Begegnung, ein Ereignis, ein Gedanke, der mit Gott in Berührung bringt. Überraschend. Ohne Vorwarnung.
Für Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, war es das Wort eines Priesters, das ihr ganzes Gottesbild durcheinander brachte: „Sie müssen wissen: Gott liebt Sie unendlich“. Für die damals noch junge Lehrerin war das wie eine Offenbarung: Gott - kein Gott der Rache? Kein gestrenger Aufpasser und oberste moralische Instanz, der nichts entgeht und der nichts recht zu machen ist? Kein Gott, der durch Leistung – durch Gebete, Opfer, Messen, Verzicht ... zufrieden zu stellen ist? - Es war die Entdeckung ihres Lebens: Gott liebt mich unendlich!
Sie fing an, sich intensiver für diesen Gott zu interessieren. Sie las mit ihren Freundinnen in der Bibel, entdeckte, dass Gott groß im Verzeihen ist, während um sie herum –mitten im 2. Weltkriegs – nur Hass und Angst und Verzweiflung herrschte. Das Evangelium lehrte sie, dass man die Worte Jesu ernst nehmen, zum Lebensprogramm machen konnte. Dass sie diesen Gott, der sie liebte wieder lieben konnte: im Gebet und in der Andacht, aber auch in den Nächsten, der alten Frau, dem verängstigten Kind, dem hilflosen Nachbarn. Sie fing an, in den Nöten des Krieges ihre Habseligkeiten mit denen zu teilen, die noch weniger hatten als sie. Und es blieb nicht aus, dass andere auf sie aufmerksam wurden und ebenfalls mitmachten, der Liebe ein Gesicht zu geben. Sie lebte für diesen Gott, der sie liebte, und andere folgten ihr.
Wenn sie den ganzen Tag über versucht hatte, um Gottes willen die Menschen zu lieben, die ihr begegneten: konkret, mit Herz und Verstand, mit Arbeit und dem Einsatz an Zeit, Geduld, Verständnis ..., dann fühlte sie sich am Abend, wenn sie allein war, Gott besonders nah. Es stimmte also, auch heute, nach 2000 Jahren, was Jesus seinen Jüngern ans Herz gelegt hatte: „Wer mich liebt, dem … werde ich mich offenbaren“ (Joh 14,21). Und was Johannes später in einem Brief an die christlichen Gemeinden schrieb, konnte sie aus eigener Erfahrung bestätigen: „Wir sind vom Tod zum Leben hinüber gegangen, weil wir die Brüder – resp. Schwestern – lieben.“ (1 Joh 4,…) Leben bekam so einen volleren, erfüllteren Klang,
Es war daher nur konsequent, dass sie sich schon bald entschied, ihr ganzes Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Verbindlich, persönlich, unspektakulär. Ihre Weihe an Gott erfolgte in einem schlichten Gottesdienst, am 7. Dezember 1943, also vor fast genau 60 Jahren. Und Hunderttausende haben es ihr seither gleichgetan, rund um den Erdball. Ihr persönliches „ja“ zu Gott war der Anstoß für eine der großen geistlichen Aufbrüche in unserer Zeit. Für mich ein überzeugender Beweis: Gott kommt an. Auch heute.
Gott suchen – und finden (Augustinus)
Komm du Heiland aller Welt! - so klingt es wieder in den Kirchen und Gemeinden, auf Weihnachtsmärkten und in Adventskonzerten. Manch einen mag diese strenge, eindringlich flehende Melodie noch an Schulzeiten erinnern, an Kommunion- oder Konfirmandenunterricht.
Komm, du Heiland aller Welt!, die Worte dieses alten Kirchenliedes aus dem 4. Jahrhundert ziehen sich wie ein Refrain und Endlosreim durch die Geschichte der Menschheit, seit über 1600 Jahren: Komm, Gott! Wir warten darauf, dass du dich zeigst; dass du helfend und rettend eingreifst. Komm, dass wir erkennen, von innen her verstehen können, wer du bist, was du für uns bedeutest.
Natürlich wissen wir: Gott ist schon gekommen, angekommen in unserer Welt und Geschichte. Weihnachten erinnert daran, dass der Himmel die Erde berührt. Aber es ist ein Unterschied, ob ich im Glauben weiß, dass Gott einmal, vor 2000 Jahren in diesem Kind in der Krippe Mensch geworden ist, oder ob ich heute mit meinen Sinnen spüren und mit meinem Denken erahnen kann, dass es Gott gibt, nicht irgendwo fern im Himmel, sondern hier, bei mir, in all dem Durcheinander meiner oft so kleinen, engen Welt.
Unruhig ist unser Herz, bis es Heimat findet in Dir, so beschreibt Augustinus das Ende seiner langen Suche. Auch seine fromme Mutter Monika konnte nicht verhindern, dass er als Jugendlicher ein ziemlich ausschweifendes Leben führte – Erlebnisgesellschaft im 4. Jahrhundert; dass er schließlich in den Fängen einer Sekte landete.
Er war bereits Professor in Mailand, als er Ambrosius, den damaligen Bischof kennen lernte. Dieser Mann beeindruckte ihn zutiefst, und so stieß er, von ihm angeregt, eines Tages auf ein Bibelwort, das seinem Leben die entscheidende Wende gab: Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag ... ohne Unzucht und Ausschweifung (Röm 13,13). Er sah wie in einem Film sein bisheriges Leben an sich vorbei laufen - und er wusste mit einem Mal, dass er das ändern wollte. Von Grund auf. Augustinus ließ sich taufen, legte alle seine Ämter nieder, wurde schließlich sogar Priester, bald darauf Bischof. In seinen Bekenntnissen lässt er die Scham über die verpfuschten Jahre seines Lebens durchblicken, aber auch die tiefe Dankbarkeit über die Wende, die sein Leben schließlich genommen hat: Spät habe ich begonnen, dich zu lieben, o Schönheit, alt und ewig neu. Du hast gerufen und geschrieen und meine Taubheit durchbrochen.
Veni Redemptor hominis! Komm du Heiland aller Welt!
gut möglich, dass schon Augustinus dieses Kirchenlied mitgesungen hat; es stammt von Ambrosius, seinem geistlichen Mentor und Freund. Für Augustinus hat sich dieser flehentliche Ruf (des Advent) erfüllt. Er hatte lange gesucht und gefunden.
Verstehst du auch, was du da liest ...? Bibelteilen
„Verstehst du auch, was du da liest?“
Es ist eine Reisebekanntschaft der besonderen Art, die da in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Philippus, einer der Jünger Jesu, verlässt sich auf seine Intuition, als er in den Wagen des Fremden steigt. Der Mann scheint der Prototyp dessen zu sein, der religiös motiviert, aber nicht weiter festgelegt ist, er ist auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem religiösen Erlebnis. Dafür nimmt er auch lange Wege und große Strapazen in Kauf. Aber der Durchbruch ist allem Anschein nach ausgeblieben. Als Philippus ihn trifft, liest er zwar in den heiligen Schriften, aber versteht sie nicht. „Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“, so seine resignierte Antwort.
So mag es auch heute manchem ehrlich suchenden Zeitgenossen gehen. Als Jugendlicher war ich oft in der Kirche und hatte das Gefühl, nah dran zu sein am Heiligen. Aber im letzten verstand ich nicht, was da vorgetragen wurde. Ich erinnere mich an die Predigten, die mir endlos vorkamen, und an Evangelien, die einfach an mir vorbeirauschten. Das ärgerte mich, denn ich hatte den Eindruck, dass mehr dahinter war, als ich verstand. Hätte mich jemand gefragt, meine Antwort wäre genau dieselbe gewesen wie die jenes Weltenreisenden: „Wie könnte ich verstehen, wenn mich niemand anleitet?“
Aber es hat mich niemand gefragt, und es hat mich auch niemand angeleitet. Im Grunde wäre es mir peinlich gewesen, zuzugeben, dass ich zwar kirchlich sozialisiert und religiös geschäftig war, im Grunde aber keinen inneren Bezug fand zum heiligen Geschehen, den heiligen Worten. Eine unbequeme Lage: ernsthaft zu suchen und gleichzeitig zu merken, in den wesentlichen Fragen allein zu sein. Seitdem war mir klar: Eigentlich geht Glauben nur mit anderen. Allein ist es mühsam. Ich hätte einen Philippus gebraucht, jemanden, der mitgeht und mir den Sinn der Schrift erschließt.
Viel später habe ich entdeckt, dass das sogar Methode hat. Man nennt es „Bibel teilen“. Ursprünglich für die Christen auf dem Land entwickelt, in den entlegenen Dorfgemeinschaften Südafrikas, hat sich diese Methode, die Bibel zu lesen, weltweit durchgesetzt. Man beginnt mit einem Gebet, um sich innerlich vor Gott zu stellen. Ein Abschnitt aus der Bibel wird vorgelesen, und jeder wiederholt ein Wort, einen Satz, der ihn besonders anspricht. Dabei ist wichtig, dass man nicht sofort ins Diskutieren kommt, sondern die Worte auf sich wirken lässt und nach der Bedeutung für das eigene Leben fragt. Seit Jahren treffe ich mich regelmäßig mit Jugendlichen zum Bibelteilen; wir lesen die biblischen Texte des nächsten Sonntags und einigen uns am Ende auf ein Leitwort für die nächste Woche, ein Wort zum Leben.
Vor einiger Zeit war genau jener Abschnitt aus der Apostelgeschichte dran: „Verstehst du auch, was du da liest?“ Ich war beeindruckt, mit welchem Verständnis auch 15- und 16jährige die Bibel lesen, wenn sie es gelernt haben, danach zu leben. Und im Gespräch scheint es, als ob erst im Zusammenlegen der Puzzleteilchen die ganze Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit des biblischen Textes aufleuchtet.
Verstehen, was man liest. Aber es gilt auch umgekehrt: Leben, was man versteht.
So wächst der Glaube, so bekommt das Leben einen tieferen Sinn.
Ende der Kurzfassung
Verehrte Hörerinnen und Hörer, es braucht manchmal Mut, auf den Lebenswagen des anderen aufzuspringen und nach dem Wesentlichen zu fragen. Es braucht oft genauso viel Mut, den anderen in das eigene Lebensgefährt aufzunehmen, bereit, die eigene Schwäche, das eigene Unvermögen zu offenbaren. Es braucht Mut, sich nicht von den wirklich wichtigen Fragen ablenken zu lassen, sondern bis zu den Konsequenzen für das eigene Leben dran zu bleiben.
Ich wünsche Ihnen, dass die Frage nach dem wahren Gott, nach dem rechten Glauben und Tun Sie umtreibt und nicht in Ruhe lässt. Und ich wünsche Ihnen einen Philippus, der zu Ihnen in den Lebenswagen steigt: einen Weggefährten für die wirklich wichtigen Fragen im Leben. Dass daraus Antworten werden, die zu tieferem Verstehen – und zu erfüllendem Leben führen.
„Der Herr ist wahrhaft auferstanden"
„Als erstes lesen wir morgens immer die Todesanzeigen", so der Kommentar meines Vaters, als wir kürzlich im Kreis der Familie beim Frühstück saßen. „Man muss ja schließlich wissen, was in der Stadt passiert - und wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten", fügt er mit etwas leiserer Stimme hinzu. Natürlich, je älter man wird, desto mehr Freunde und Bekannte verabschieden sich leise aus dem eigenen Lebensumfeld.
Ich gestehe, dass auch ich gelegentlich in den großen, überregionalen Tageszeitungen bei den Todesanzeigen hängen bleibe, allerdings nicht, weil ich jemanden der dort Angezeigten persönlich zu kennen meine. Die Todesanzeigen, finde ich, verraten vielmehr Entscheidendes über das Leben, genauer: wie die Lebenden mit dem Sterben umgehen.
„In stiller Trauer", heißt es da etwa, nehme man Abschied von einem lieben Menschen, erschüttert über den plötzlichen, unerwarteten Tod eines Angehörigen, eines Mitarbeiters oder eines Vorgesetzten, manchmal auch mit dem Hinweis auf ein erfülltes Leben oder ein langes, qualvolles Leiden, das dem Lebensende vorausging.
In diesen Anzeigen finden sich Sinnsprüche von Hölderlin oder Sentenzen von Tacitus, immer öfter aber bleibt auch einfach eine Leere, die nicht durch einen sinnigen Spruch oder eine vage Idee an ein Weiterleben kaschiert wird.
Und dann gibt es noch jene Anzeigen, auf denen sich religiöse Symbole finden, die betenden Hände von Dürer etwa oder ein Kreuz mit Siegeskranz. Und natürlich ein deutendes Wort aus dem christlichen Glauben, ein Psalmwort, ein Bibelvers, Zeichen der Hoffnung und des Vertrauens, dass Gott den lieben Menschen nicht dem Tod und Vergessen anheim gibt, sondern ihm ewiges Leben bereitet, ihn aufnimmt in seine liebende Gegenwart.
Vor mir liegt noch die Todesanzeige für den kürzlich verstorbenen Paderborner Erzbischof, Kardinal Degenhardt. Er hatte mich seinerzeit zum Priester geweiht, und über viele Jahre war ich ihm eng verbunden.
„Surrexit dominus vere!„ prangt über der Nachricht von seinem Tod: „Der Herr ist wahrhaft auferstanden!„. Natürlich darf man zumindest bei der Todesanzeige eines Bischofs ein solches Bekenntnis erwarten. Aber dieses Wort steht nicht nur über seinem Sterben; es hat sein ganzes Leben geprägt. „Der Herr ist wahrhaft auferstanden!"
Als Johannes Joachim Degenhardt vor über 30 Jahren zum Weihbischof von Paderborn ernannt wurde, - in einer Zeit, da jedes und alles in Frage gestellt, erst recht die Glaubenshoffnung und Auferstehungsgewissheit der Christen angezweifelt und belächelt wurde - ,hat er sich dieses Wort aus dem Evangelium als Bischofsmotto gewählt, ein Leitsatz für die langen Jahre seines bischöflichen Dienstes: „Der Herr ist wahrhaft auferstanden".
Ein Wort, das über das leere Grab Jesu hinausweist. Es war die Losung, an der die Jünger Jesu sich erkannten; es war der Ruf, den die Apostel jenen entgegenbrachten, die selbst durch die Dunkelheit der Nacht gelaufen waren, um von ihrer lichtvollen Erkenntnis, der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn zu berichten.
„Der Herr ist wahrhaft auferstanden!" Ein Wort, das durchträgt, auch über die Grenze des Todes hinaus; ein Wort, das aufrichtet und zum Leben ermutigt, auch angesichts manch unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeit und Sorge.
Ende der Kurzfassung
Im Ritus der Bischofsweihe – so auch damals beim jungen Weihbischof Degenhardt – findet sich ein sehr bewegendes Zeichen, das diesen Glauben zum Ausdruck bringt. Dem neugeweihten Bischof wird ein aufgeschlagenes Evangelienbuch über den Kopf gehalten: die Seiten des Buches gleichsam wie ein Dach über dem Mann, der fortan das Evangelium, den Glauben an Jesus Christus, die Hoffnung auf ewiges Leben verkündigen soll, – eine Existenz im Haus des Wortes also.
„Der Herr ist wahrhaft auferstanden". Es ist ein Wort für Todesanzeigen, die doch eigentlich Geburtsanzeigen sind: wir sind geboren, um zu sterben – wir sterben, um zu leben.
Ein Wort für schwere Zeiten, Zeiten persönlicher Anfechtung von innen und ehrverletzender Angriffe von außen, aber Zeiten auch der Zuversicht, des Gottvertrauens, der Glaubensfreude.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, ich möchte uns wünschen, dass sich auch über unserem Leben ein solch bergendes und schützendes Wort des Glaubens findet: ein Wort, unter dem man leben kann, ein Wort, in dem man auch sterben kann.
„Der Herr ist wahrhaft auferstanden" – in Ihm haben wir bereits jetzt Zugang zum ewigen Leben.
„Herr, hilf!“ - Das Jesus-Gebet
„Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105) so heißt es in einem Psalm. Ein schönes Bild: Gottes Wort erhellt gleichsam den Weg, der sich mir im Gehen unter die Füße schiebt. Schritte auf dem Lebensweg, die nicht orientierungslos im Dunkeln tappen, sondern bewusst gesetzt, gelenkt werden. Ein schöner, ein beruhigender Gedanke, wenn ich manchmal noch schlaftrunken die ersten Schritte in den neuen Tag setze und manchmal nicht weiß, wie ich bis zum Ende des Tages gelangen soll. „Gottes Wort - ein Licht für meine Pfade“ – ein schönes, vielleicht aber auch ein schiefes, ein falsches Bild? Denn sind es nicht oft ganz andere Lebensweisheiten, die sich in das Denken, Fühlen und Handeln schieben?
Da gibt es etwa das geheime Lebensmotto: „Ich will nicht mehr; es hat ja doch alles keinen Wert“, oder, resignierter noch: „ich kann nicht mehr“. Ein Lebensmotto, geboren vielleicht aus einer tiefsitzenden Enttäuschung, aus dem Gefühl einer Übermacht durch Grenzen, die mir gesetzt werden, die ich mir vielleicht auch selber setze. Resignation, geboren vielleicht aus dem eigenen Versagen, der Überforderung und der Erfahrung, dass es doch nichts bringt, so sehr ich mich auch abstrampele.
Es ist das Gefühl einer lähmenden Müdigkeit und das fehlende Vertrauen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Anders dagegen die autosuggestive, die übermütige und selbstgewisses Lebensdevise: „Ich will Spaß! Ich will alles, sofort!“ - Da geht es vor allem um mich. Das Leben, eine wundervolle Inszenierung auf der Bühne meiner selbst, gepaart mit Unbekümmertheit oder gar Rücksichtslosigkeit --solange es eben gut geht: solange das nötige Kleingeld da ist; Leute, die mich gut finden und ich nicht plötzlich an eine Grenze komme. Loser-Typen passen nämlich nicht in dieses Selbstbild.
Und dann gibt es da natürlich noch die Lebensphilosophie dessen, der sein Lebensgefühl aus der Arbeit, aus dem Erfolg, der Karriere bezieht: „Es geht alles“ – die amerikanische Lebensphilosophie des „anything goes“, gepaart mit rheinischer Leichtigkeit, dass es eben doch noch immer gut gegangen ist. Aber es gibt Tage und Zeiten, da geht es eben nicht mehr gut. Da stimmt etwas nicht in der Partnerschaft, in der Familie. Oder in der Arbeit, mit dem Erfolg, der Karriere, der Gesundheit.
Doch es gibt neben diesen Stimmungen, „aus dem Bauch heraus“, auch ganz bewusste Lebenshaltungen. Ich finde sie häufig bei Menschen, die die Nähe Jesu suchen, etwa dem blinden Bettler Bartimäus, der kranken, blutflüssigen Frau, der trauernden Martha. Es ist die schlichte, vertrauensvolle Bitte: „Herr, hilf“ Ein Wort, das Jesus wohl immer und immer wieder zu hören bekam, wo er mit Menschen in Berührung kam, zumal den Bedrängten, Betrübten, Betrogenen. Dieser Ruf ist eines der ältesten Jesusgebete, ein Stoßgebet, ein Gedanke, der sich in die verschiedenen Situationen und Begegnungen drängen will. Ein Wort, das auf die Dauer das eigene Denken und Handeln prägt und unser alltägliches Leben in die Sphäre Gottes hebt: Beim Telefonieren, bei einem Arztbesuch, beim Autofahren ... – überall.
„Herr, hilf!“ Auch in der Stunde unseres Todes.
Ende der Kurzfassung
Als ich während meiner ersten Semesterferien im Krankenhaus jobbte, wurde ich von der Krankenschwester auf ein Zimmer geschickt, in dem ein älterer Mann mit dem Tode rang. Er schien große Schmerzen zu haben, war aber nicht mehr ansprechbar. Alles, was ich machen konnte, war, an seinem Bett zu sitzen, ihm die Hand zu halten, ein Gebet zu sprechen. Das einzige Wort, das er stoßweise wiederholte, wohl weil es sich so tief in sein Unterbewusstsein eingeprägt, sein ganzes Leben bestimmt hatte, war genau dieser Hilferuf: „Herr, hilf“. Mich hat dieser Ruf seitdem nicht wieder losgelassen. Es kommt mir vor allem in schwierigen und entscheidenden Situationen immer wieder in den Sinn. Ein Lebens-Wort, das für meinen Fuß tatsächlich zu einer Leuchte geworden ist, Licht für meinen Pfad.
„Herr, hilf!“ Es ist ein Wort, das den Himmel berührt und unser Leben verwandelt. Ich wünsche es Ihnen an diesem Tag.
Wort des Lebens
Es war mitten im Zweiten Weltkrieg. Die Alliierten flogen immer wieder Luftangriffe über Trient. Immer wieder heulten die Sirenen, liefen die Menschen in die Luftschutzbunker, saßen sie dichtgedrängt, in Lebensangst, in dunklen, stickigen Kellern. Sie hofften, dass die Flugzeuge darüber hinwegzogen, ohne ihre tödliche Fracht abzuwerfen.
Unter den verschreckten Menschen fanden sich auch einige junge Frauen, deren Habseligkeiten einzig in einer Bibelausgabe bestanden. Alles, was sie hatten - alles, was sie brauchten, waren Worte für das Überleben. Worte, die ihnen bedeuten konnten, wofür es sich zu leben lohnte in diesen verrückten Zeiten.
Und während um sie herum die Menschen verstört oder angstverschreckt auf das Signal zur Entwarnung warteten oder einfach nur apathisch vor sich hinstierten, lasen sie in dem Buch der Bücher und entdeckten, vielleicht zum ersten Mal, dass es sich bei den Evangelien durchweg um Ermutigungen zum Leben handelte. Worte, die Trost und Hoffnung gaben, aus denen man leben konnte. Worte, mit denen man, wenn es so sein sollte, auch sterben konnte. Aber sie machten unter diesen ungewöhnlichen Umständen noch eine andere Entdeckung: Dass man nicht erst lange sinnieren, philosophieren, diskutieren musste, um an den Kern, die Quintessenz zu kommen. Es reichte ein Satz, ein Wort, ein Gedanke aus dem Evangelium, der sich als Devise für den Tag, als Lebensmotto eignete, unmittelbar umzusetzen in den konkreten Begebenheiten des alltäglichen Lebens.
Da war zum Beispiel das Wort, das am Ende des Lebens alles entscheidet: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan„, sagt Jesus. Die jungen Frauen nahmen diese Aufforderung wörtlich. Noch im Bunker, dann in den Feuerpausen, kümmerten sie sich um jene, die ihnen als die Geringen erschienen:
- Kranke, die ihre Angehörigen verloren hatten,
- Alte, die sich nicht mehr allein versorgen konnten,
- Junge, deren Herzen der Krieg stumpf gemacht hatte,
- Frauen, deren Männer im Krieg geblieben waren,
- Menschen, die vor den Trümmern ihrer Zukunft standen ...
Es gab so viele Gelegenheiten, ein gutes Wort zu sagen, verständnisvoll zuzuhören, mit Hand anzulegen beim Aufräumen, die wenigen Lebensmittel zu teilen mit denen, die noch weniger hatten...
„Während ich selbst noch mit den Tränen zu kämpfen hatte, packt mich eine Frau und schreit: ‚Drei sind mir umgekommen!‘ Da habe ich begriffen, dass ich nicht bei meinem eigenen Leid stehen bleiben konnte", erinnert sich die heute 81jährige Chiara Lubich, eine jener Frauen der ersten Stunde. Sie schreibt seit über 50 Jahren Monat für Monat einen kleinen Kommentar, eine Anleitung für alle, die weltweit mitmachen, Worte ins Leben zu übertragen.
„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder – meiner Schwestern - getan habt“, so Jesus, „das habt ihr mir getan". Es ist die beglückende Erfahrung, einem Gott zu begegnen, der zu uns auf Tuchfühlung geht. Nicht nur in Krisen und Kriegszeiten. Auch heute. In jedem Menschen.
Ende der Kurzfassung
Vielleicht ist man in Zeiten der Dunkelheit empfänglicher für das Licht, in der Todesgefahr sensibler für wahres, nicht vergängliches Leben. Für jene Frauen wurden so, mitten in den Wirren des Krieges, jene Worte, die sie im staubigen Bunker in den alten Büchern lasen, durch das persönliche Leben angereichert, ausgeleuchtet, in ihrer Tiefe verstanden - und weiter erzählt. Diese Worte, so erlebten sie, haben eine verwandelnde Kraft, weil es dem Leben, dem Lieben und Leiden, einen Sinn gibt. Und so haben sie selbstverständlich weitergemacht, als der Krieg aus war, als so viel in Schutt und Trümmern lag, als angefasst, aufgeräumt, beigestanden werden musste. Auch als dann bessere Zeiten kamen, haben sie von dieser Lebenspraxis nicht wieder gelassen. Was in Trümmern begann, führte letztlich zu einer Initialzündung, einer weltweiten Bewegung: Das Wort wird Leben. „Was ihr den Geringsten meiner Brüder / meiner Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan„. Verehrte Hörerinnen und Hörer, ich lade sie ein, dieses Wort einfach mitzuleben: Heute, für einen Tag - und vielleicht darüber hinaus, ein ganzes Leben lang. Nicht auszuschließen, dass Sie dabei gleichfalls innere Erfüllung, Glaubensgewissheit, Lebensfreude finden. Ich wünsche es Ihnen.
Die goldene Regel
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer
Es ist frühmorgens, kurz nach sechs. In dem alten Bauernhaus, um einen wackeligen Tisch versammelt, sitzen acht Männer, der jüngste ist 14, der älteste 38 Jahre alt. Einer von ihnen hat eine aufgeschlagene Bibel in der Hand, alle sind ernsthaft ins Gespräch vertieft. Ich bin in Brasilien, in einer therapeutischen Einrichtung für Drogenabhängige. Bevor die Männer auf‘s Feld gehen oder zu den Rindern, lesen sie einen Abschnitt aus der Bibel.
„Facenda da Esperanza“ – Hof der Hoffnung, so heißt die Einrichtung, die mittlerweile auch einen Ableger in Deutschland, in der Nähe Berlins hat. Das Leben auf der Fazenda kreist um Worte: alte Worte aus der Bibel, die jedoch im Zusammenleben der jungen Leute eine ungeahnte Dynamik entfalten. Es sind einfache Worte, leicht verständlich und unmittelbar einsichtig, daher taugen sie als Lebensregeln für das Miteinander. Eine Hausgemeinschaft nimmt sich am Morgen etwa als Programm die Goldene Regel, den meisten als Sprichwort bestens bekannt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg´ auch keinem anderen zu!“ Aber das Überraschende dabei ist, dass man tatsächlich auch danach leben kann. Am Abend kommt die Wohngruppe wieder zusammen und tauscht sich aus, wie weit die Losung den Tag über gegriffen hat: ob es gelungen ist, nicht ausfällig geworden zu sein, nicht misstrauisch, nicht verletzend. Ein anderes Mal wird das Motto positiv gewendet: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12). Das eigene Denken und Handeln positiv zu beeinflussen, ist für die meisten total ungewohnt, vor allem am Anfang, wenn der Körper rebelliert, weil er keine Drogen mehr bekommt, und wenn die körperliche Arbeit, der feste Lebensrhythmus, die Einbindung in eine Gemeinschaft einem als eine unmenschliche Tortur vorkommt.
„Die Leute, die ankommen, sind voller Stolz, sind gefangen von Sex, Drogen, Geld, von lauter vergänglichen Dingen“, sagt Vamberto, der selbst vor Jahren aus dem Milieu ausgestiegen ist und hier wieder Tritt gefasst hat. „Wir versuchen, ihnen in all dem eine neue Klarheit zu geben: dass es etwas Übernatürliches, Unendliches gibt.“ Mit der Zeit verfehlen diese gemeinschaftlich gefassten Vorsätze nicht ihre Wirkung. Sie führen zu einer Umkehr im Denken - und auch im Handeln. Man erlebt, dass auch der andere sich müht, etwa wenn einer vor den anderen bekennt, dass er die Geduld verloren hat oder in der Hitze der Diskussion laut geworden ist. Es ist keine Schande, Fehler einzugestehen und um Verzeihung zu bitten. Das imponiert und gibt Mut auch für das eigene Bemühen.
Worte des Evangeliums, eins ums andere in die Tat umgesetzt, und darüber ständig im Gespräch sein: das ist die grundlegende Pädagogik dieses Selbsthilfeprojekts und der eigentliche therapeutische Ansatz, sozusagen die Unternehmensphilosophie. So werden die kleinen häuslichen Gemeinschaften Woche für Woche jeweils durch ein „Wort“ geführt, und das „Wort“ führt sie zu einem zunehmend erfüllten Leben. Darin liegt das Geheimnis, warum die meisten es schaffen, wieder neu anzufangen.
Ende der Kurzfassung
„Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ Die „Goldene Regel“ findet sich – so oder in ähnlicher Formulierung - in den Volkswahrheiten wie in den heiligen Schriften aller großen Weltreligionen. Hier auf der Facenda da Esperanca wird sie zur Lebensregel, zur Grundlage für das Miteinander, die Voraussetzung, dass der Neuanfang gelingt – und anhält.
„Man fühlt sich einfach besser“, sagt Patrick aus Leipzig, der mir das Projekt auf Gut Neuhof bei Berlin erklärt. „Die ersten sechs Wochen brauchst du, um von der Droge wegzukommen, und den Rest des Jahres, um einen neuen Lebensstil anzufangen: zu lernen, nicht ständig um dich selbst und deine eigenen Bedürfnisse zu kreisen, sondern einen Blick für den anderen zu bekommen: ihm zuliebe das Radio leiser zu drehen, sich nicht sofort das größte Stück Fleisch auf den Teller zu tun; Zeit zu haben, wenn er ne Runde Schach spielen will.“ Es sind die kleinen Dinge, die das Leben verändern.
„Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ Verehrte Hörerinnen und Hörer, man muss nicht auf Entzug von der Droge, vom Ego sein, um das kleine zarte Glück zu erfahren, das in diesem Lebensstil der Goldenen Regel begründet liegt. Ich wünsch es Ihnen – heute.
„Macht euch keine Sorgen!" SMS-Botschaft
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer
Der Zug ist gerade angefahren, als das Handy leise summt. "Macht euch keine Sorgen!„ lese ich auf dem Display. "Das rechte Wort zur rechten Zeit"‘, schießt es mir durch den Kopf, denn unser Zug hatte mittlerweile 15 Minuten Verspätung, maximal neun konnte ich mir beim Umsteigen auf dem nächsten Bahnhof leisten. Ehrlich gestanden war ich gerade ziemlich in Sorge, ob ich den Anschlusszug erreichen würde, und wen ich benachrichtigen müsste, wenn ich den Zug verpasse ...
„Macht euch keine Sorgen!".
Die Textmeldung, die tägliche SMS-Botschaft, kommt genau zur richtigen Zeit, um mich daran zu erinnern, dass weder der Schaffner etwas für die Verspätung kann noch der häufigere Blick auf die Uhr etwas daran ändert.
„Macht euch keine Sorgen“, ein Wort aus der Bergpredigt, wo Jesus seinen Jüngern erklärt, dass Gott doch weiß, was ein jeder braucht und nötig hat. Das gilt für die großen, aber auch für die kleinen Sorgen des Lebens. „Wenn sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt sind ... Ich gestehe, dass es mich einen Augenblick der Überwindung kostet, mich aus der inneren Anspannung zu lösen und und meine banale Sorge um die Verspätung loszulassen, „Macht euch keine Sorgen!„.
Seit geraumer Zeit schickt mir Christian jeden Morgen ein Bibelwort als Lebenshilfe aufs Handy. Und so ein Wort hilft tatsächlich, sich nicht unter Druck setzen und von den Lebensumständen beherrschen zu lassen, sondern sich selbst in den längeren Atem Gottes zu stellen. In seiner Kirchengemeinde, wo Christian Vikar ist, hatte er in Bibelkreisen, Exerzitiengruppen, Jugendgottesdiensten, dafür geworben, jeden Tag im Evangelium zu lesen, als Lebenshilfe für den Tag. Als immer mehr auf diese Initiative eingingen, kam ihm die Idee, den täglichen Impuls per SMS-Botschaft weiterzuleiten. Seit kurzem bin also auch ich in diesem digitalen Bibelkreis angeschlossen, und so bekomme ich jeden Morgen ein Lebens-Wort frei Haus geliefert.
Ich muss dabei an ein Gespräch denken, in dem mir ein Kaplan von der Not der Jugendlichen erzählte, in ihrem Freundeskreis zum Glauben zu stehen: Ein 16jähriger entschuldigt sich in einem Brief für sein blödes Verhalten bei einem Jugendwochenende. Auch wenn es nicht so aussieht, aber ihm sei Religion und Glaube sogar sehr wichtig, nur traue er sich nicht, es nach außen zu zeigen. Sonst sei er in seiner Clique unten durch. Ähnlich eine 15jährige, die Sorge hat, die Mutter ihrer Freundin könne sie sehen, wenn sie sonntags zur Kirche gehe. Wenn das ihre Freundin erfahre, werde sie zum Gespött in der Klasse, und der tägliche Schulgang werde zum Spießrutenlaufen. Sie geht übrigens trotzdem zur Kirche, aber es kostet sie einige Überwindung, und zwar aus diesem Grund.
Das geht mir durch den Kopf, als ich auf die Textmeldung schaue, und mich tröstet dabei, dass beide Jugendliche ebenfalls an den Lebenskreislauf des Evangeliums angeschlossen sind und jetzt wohl gerade dasselbe Lebensmotto meditieren: eine anonyme und diskrete Lebenshilfe aus dem Evangelium, sich neu in der Haltung des Glaubens zu verankern.
Heute also: ohne Sorge zu sein. Gott wird für mich sorgen.
Ende der Kurzfassung
Ein Wort aus dem Evangelium als Lebenshilfe für den Tag:
Eine ungewöhnliche, aber moderne Art, sich vom Wort Gottes zu ernähren, eine Möglichkeit, sich darüber auszutauschen, miteinander verbunden zu sein. In jeder Messe wiederholen wir vor dem Kommunionempfang, was der heidnische Hauptmann zu Jesus spricht. „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“ „Nur ein Wort": für mich ist es heute der Appell: „macht euch keine Sorgen!"
Verehrte Hörerinnen und Hörer, ich lade Sie ein, sich für heute diesem Motto anzuschließen: Gott alle Sorgen anzuvertrauen: die großen des Lebens ebenso wie die banalen des Alltags. Dann kann man es sogar mit einem kleinen Seufzer ertragen, wenn man den Zug verpasst.
Die Seele wird daran keinen Schaden nehmen.
Unterwegs zur eigentlichen Heimat - What a wonderful world
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer,
„Was für eine wunderbare Welt!“ Was für ein Geschenk, heiter und positiv gestimmt in den neuen Tag zu gehen, lebensfroh, in dem Bewußtsein, die Welt steht mir offen, alles ist Geschenk für mich - und ich bin Geschenk für andere.
Louis Armstrong, von dem dieses Lied (im Hintergrund) stammt, verkörpert wohl wie kaum ein anderer diese positive Lebenseinstellung. Er transportiert sie über seine Musik in die Herzen der Menschen. Seine Musik hinterlässt ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, die uns sagen läßt: Ja wirklich: das Leben ist wunderbar.
Dabei hätte jener schwarze Jazz-Musiker mit der vollen, weichen Stimme, durchaus Grund gehabt, über sein Schicksal zu klagen. Bald nach seiner Geburt lässt der Vater die junge Familie sitzen und macht sich aus dem Staub. Der kleine Louis wächst bei der Großmutter auf, später lebt er mit Mutter und Schwester in einer herunter gekommenen Zwei-Zimmer-Wohnung in einer schäbigen Gegend in New Orleans, wo man die Armut geradezu riecht. Mit 11 Jahren wird er von einem Polizisten aufgegriffen und in ein Heim gesteckt. Dort bekommt er Musikunterricht und leitet schon bald seine erste Band.
Die Musik ist es schließlich, die seinem Leben Glanz und Farbe gibt: einen Zauber, der ihm hilft zu leben und der sich auf alle legt, die ihn hören. Louis Armstrong hat schon eine lange Karriere hinter sich, als er seinem Lebensgefühl schließlich auch Stimme verleiht. Nicht jemand, der naiv und unbedarft vor sich hinträllert und die Welt in Bonbonfarben sieht. Das schlichte Bekenntnis zu dieser wunderbaren Welt steht fast am Ende seines Lebens. Man darf es vielleicht als eine Synthese seiner Erfahrung und Hoffnung verstehen. Da beginnt einer zu singen, der an den Härten des Lebens gewachsen und durch Krisen gereift ist; der tiefer sieht und hinter allem Vordergründigen das Bleibende und Wahre erkennt: das Wunderbare dieser Welt – eine Homage an den, der diese Welt so wunderbar geschaffen hat.
Musik I
Das Bekenntnis zu dieser wunderbaren Welt muß sich allerdings erst noch bewähren, wenn die Sonne einmal nicht scheint, wenn mir nicht alle Türen offen stehen, und wenn ich nicht mehr jedermanns Liebling bin.Solche Zeiten kommen unweigerlich für jeden von uns, früher oder später. Die schöne, heitere Welt bekommt plötzlich oder schleichend Risse:Wenn die Kinder aus dem Haus ziehen und vielleicht ganz andere Wege einschlagen als die Eltern sich das vorgestellt haben. Wenn sich kleine oder größere gesundheitliche Probleme einstellen, der Gedanke an eine schwere Krankheit nicht mehr zu verdrängen ist, wenn der Verlust eines lieben Menschen, der Abbruch einer Beziehung, die Enttäuschung über mich selbst, über andere zu beklagen ist. An solchen Stationen unseres Lebensweges muss sich zeigen, ob unser positives Lebensgefühl tiefere Wurzeln hat oder ob es im zerbrechlichen Glück eines Tages, einer Stimmung zu Hause ist. „Der Mensch bleibt nicht in seiner Pracht, er gleicht dem Vieh, das verstummt“, so heisst es sehr drastisch im 49. Psalm. Daran muss ich oft denken, wenn ich bei einer Beerdigung hinter dem Sarg hergehe oder von einem Kondolenzgespräch mit den trauernden Angehörigen komme. Aber dann trösten mich die Worte, mit denen der Psalm fortfährt: „Doch Gott wird mich loskaufen aus dem Reich des Todes. Ja, er nimmt mich auf. “Bis das geschieht, sind wir unterwegs zur eigentlichen Heimat. Kein Zweifel: Diese Wege sind zuweilen recht mühsam und ziehen sich lang. Am Anfang mag alles leicht, einfach, unbeschwert sein, und wir mögen uns dankbar an solche Tage erinnern, da wir einfach in den Tag und in unser Leben hineingelebt haben. Aber es stellt sich früher oder später unausweichlich die Frage: Was bleibt? Was hat letztlich wirklich Wert? Wohin geht die Reise? „Unruhig ist unser Herz, bis es Heimat findet in Dir“, so formuliert Augustinus das Ende einer langen Suche in seinen „Bekenntnissen“. Auch seine fromme Mutter Monika konnte nicht verhindern, dass er als Jugendlicher ein ziemlich ausschweifendes Leben führte und schließlich in den Fängen einer Sekte landete. Er war bereits Professor in Mailand, als er den damaligen Bischof Ambrosius kennen lernte, dessen Predigten ihn zutiefst beeindruckten. Eines Tages stieß er beim Aufschlagen der Bibel auf ein Wort, das seinem Leben schließlich die entscheidende Wende gab: „Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag ... ohne Unzucht und Ausschweifung“. Augustinus ließ sich taufen, legte alle seine Ämter nieder und wurde schliesslich Priester, bald darauf Bischof. In seinen „Bekenntnissen“ lässt er die Scham über die „verpfuschten“ Jahre seines Lebens durchblicken, aber auch die tiefe Dankbarkeit über die Wende, die sein Leben schliesslich genommen hat: „Spät habe ich begonnen, dich zu lieben, o Schönheit, alt und ewig neu. Du hast gerufen und geschrien und meine Taubheit durchbrochen. “Vielleicht war es notwendig, dass dieser bedeutende Kirchenlehrer Augustinus selbst durch ein Tal der Tränen gehen und seine Begrenztheit und Schwachheit am eigenen Leib erfahren musste. Wer wie er in die eigenen Abgründe geschaut, aber auch den Großmut und die Liebe Gottes kennen gelernt hat, der dürfte dann auch mit seinen Mitmenschen barmherziger umgehen; der weiß, dass bei all unserem Bemühen vor allem Gott es ist, der uns auf dem Weg zur eigentlichen Heimat vorangeht: „Deine Gnade ist es, o Herr, dass es mir Freude macht, dich zu loben, denn auf dich hin hast du uns geschaffen: und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ so beschreibt er Jahre später sein damaliges Suchen und Ringen, aber auch die Gnade des Neuanfangs.
Musik II
Die entscheidende Wende im Leben des heiligen Augustinus erinnert mich an Elpidio, einen jungen Mann, den ich bei einer Brasilienreise im letzten Jahr kennen lernte: in einer Therapieeinrichtung für Alkohol- und Drogenabhängige in der Nähe von Sao Paolo. Fazenda da Esperanza, also „Hof der Hoffnung“ heißt die Einrichtung, und es ist tatsächlich die Hoffnung, die bewegt und trägt. Elpidio erzählt, dass sie Zuhause früher eine ganz normale, glückliche Familie waren. Aber da sind auch Erinnerungen, wie sein Vater die Mutter schlägt. Die Mutter ist dann fremd gegangen, konnte sich diesen Fehltritt aber selbst nie verzeihen und hat schließlich Selbstmord begangen. Der Vater kümmert sich nicht mehr um die Familie. Die älteren Geschwister heiraten; er selbst landet als 10jähriger auf der Straße. Um als Straßenkind zu überleben, ist er zu ungeschickt. Irgendwie schlägt er sich mit kleinen Diebstählen durch. Dann kommt es auch zu größerer Kriminalität und Gewalttätigkeit; schließlich hat er auch Menschen umgebracht. Er wird mehrmals verurteilt und sitzt sieben Jahre im Gefängnis. In einer Zelle, die für sechs ausgelegt ist, sind sie zu 40; in einer Zelle für 40 Häftlinge sitzen sie zu 120 ein. Als er aus dem Gefängnis kommt, versucht er, die verlorenen Jahre nachzuholen; er hat eine Beziehung nach der anderen. Trotzdem hat er den Eindruck, daß er im tiefsten Inneren ein ganz anderer Kerl sei, und es ekelt ihn vor sich selbst. Mit einem Mal geht ihm auf: es ist ein Wunder, das er überhaupt noch am Leben ist. Weder die Straße noch die Gefängnisse noch die Polizei, die ihn oft gefoltert hatte, haben ihm das Leben nehmen können. In dieser Situation wendet er sich an eine befreundete Sozialarbeiterin und bittet sie, ihm dabei zu helfen, ein normales Leben anzufangen. Auch wenn sie dem überraschenden Sinneswandel nicht traut, erkundigt sie sich schließlich nach einer Möglichkeit und verweist ihn an die Fazenda da Esperanca, allerdings mit der Bemerkung, daß die Bedingungen wohl zu hart für ihn seien: Er müsse dort ein ganzes Jahr aushalten, es gäbe weder Fernsehen noch Frauen, keine Zigaretten, kein Alkohol, sondern nur harte Arbeit. Aber der Wille in ihm, neu anzufangen, ist so stark, daß er sich sagt: ”Wenn ich sieben Jahre im Gefängnis überlebt habe, dann werde ich auch dieses eine Jahr in der schönen Natur durchstehen.” Das war der Anfang seines neuen Lebens. Bei der Eingangsuntersuchung stellt man fest, daß er HIV-positiv ist. Das spornt ihn an, aus der noch verbleibenden Zeit das Beste zu machen: sich für die Kollegen auf der Fazenda einzusetzen, als erster zu lieben, mit gutem Beispiel voranzugehen, den anderen während der schwierigen Phase des Entzugs zu helfen, sie zu trösten ... Er besucht dann auch das Sterbehaus, in dem die Aidskranken in der letzen Phase ihres Lebens liebevoll gepflegt und begleitet werden, in dem sie auch sterben können – mit einer Würde, die den meisten zu Lebzeiten vorenthalten war. Er versöhnt sich mit seinem Schicksal und beschließt, bis an sein Lebensende auf der Fazenda zu bleiben. Dabei entdeckt er auch die spirituellen Grundlagen dieses Therapiekonzepts und erkannt, daß hinter dem Sozialprojekt eine geistliche Familie stand: Männer und Frauen, die Gott ihr Leben für den Dienst an den Drogenabhängigen geschenkt haben. Das begeistert ihn so sehr, daß er schließlich selbst um Aufnahme in diese Gemeinschaft bittet. Mittlerweile ist er 35 Jahre alt. Klinisch hätte er bereits seit Jahren tot sein müssen. Die Werte seiner Immunschwächekrankheit sind jedoch entgegen jeder ärztlichen Prognose seit Jahren stabil: für Elpidio die Bestätigung dessen, was ihm ein Franziskanerpater einmal gesagte hatte: „Elpidio, wenn du stirbst, dann wird es nicht an Aids sein.”
What a wonderful World. Was für eine wunderbare Welt, in der wir leben was für eine wunderbare Welt, für die wir geschaffen sindund die uns erwartet, wenn wir einmal die Schwelle des Todes überschreiten:doch nicht eigentlich des Todes, denn es ist der Übergang zum Leben- einem Leben bei Gott, das nicht mehr endet.Ja, Gott nimmt mich auf. Das ist die Lebensperspektive, die meinen Schritten weiten Raum gibt - und festen Boden unter meinen Füssen.Mit dieser Gewissheit kann ich auch unter Tränen von dem Wunderbaren singen,das Gott in seine Schöpfung gelegt hat und das mich einmal erwartet, so meine feste Überzeugung, wenn ich die Schwelle des Todes überschreite. Jene letzte Begegnung im Tod, jenen Übergang, stelle ich mir so vor, wie ich es einmal auf einem Poster gesehen habe. Es zeigt Mutter Teresa, die sich über einen Sterbenden auf den Strassen von Kalkutta beugt. Und darunter ihre Worte: „Da bist du ja endlich! Ich habe dich schon so lange gesucht!“
Musik III, darin:
Das war das Geistliche Wort. Heute aus der Katholischen Kirche. Aus Paderborn verabschiedet sich Peter Klasvogt. Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag.
4. Körperwelten
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer. Es sind Bilder aus zwei verschiedenen Ausstellungen, die mich in diesem Jahr angerührt und innerlich bewegt haben. Zum einen: „Körperwelten“: Die Ausstellung von menschlichen Körperteilen, die öffentliche Zur-Schau-Stellung anatomischer Leichenpräparate. Eine wahrlich spektakuläre Ausstellung, die zu Proteststürmen und wüsten Beschimpfungen geführt - und zugleich zig-Tausende nach Mannheim, Köln und Oberhausen gelockt hat. Nachtschichten mußten eingelegt und Ausstellungen noch verlängert werden. Die Besucher sahen sich urplötzlich mit dem eigenen Tod, der eigenen Existenz konfrontiert. Der Mensch konnte gleichsam in einem Spiegel die Hülle seiner eigenen Endlichkeit betrachten.
„Die Faszination des Echten“, so wirbt der Katalog mit ungewöhnlichen Bildern. Doch was ist echt, was unecht? Was bleibt vom Menschen? Was ist seine Seele, was sein Geheimnis? Der Mensch: von Pathologen fein säuberlich seziert, konserviert, präpariert. Wer schützt seine Würde und wahrt seine Integrität? Der Mensch im Museum - ausgestopft, ausgeleuchtet, ausgestellt. Doch dem Geheimnis des Lebens und Sterbens kommt man so nicht auf die Spur.
„Was ist der Mensch?“ - Bilder ganz anderer Art waren dagegen in Bensberg und zuletzt im Paderborner Priesterseminar zu sehen. Die dort ausgestellten Bilder sind keine Exponate, sondern Lebenszeugnisse. Die Künstlerin hat Sterbende in ihren letzten Stunden begleitet, um ihnen liebevolle Nähe anzubieten. Dabei hat sie versucht, die Botschaften des erlöschenden Lebens zu entziffern und zu Papier zu bringen: Bilder von Kranken und Sterbenden, auf wenige Linien reduzierte Kohlezeichnungen, stille und eindrucksvolle Portraits von Menschen, die als Lebende fast schon Vergessene sind.
Die Bilder dieser Ausstellung zeigen - anders als die „Körperwelten“ - nicht das, was von uns übrig bleibt, wenn das Leben erstorben ist: eine sterbliche Hülle. Die einfühlsam und zart geführten Linien deuten vielmehr an, wie kostbar das Leben ist, das in seiner intensivsten Form, im Sterben, aufleuchtet. Sie lassen erahnen, was vergänglich ist, aber auch was bleibt, selbst über den Tod hinaus.
So beginnen die Bilder der Ausstellung ein Gespräch mit dem Betrachter, und oft mündet das Selbstgespräch in ein Gebet: in ein Sprechen mit dem, von dem alles Leben ist und der uns das Leben gewährt, gerade auch an der Grenze des Lebens. Konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit hebt sich der Blick nach oben, zu Gott: „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst?“, so in den Worten des Psalm 8. Dieser Psalm spricht von der Größe Gottes, dem Schöpfer des Universums, was ihn doch nicht daran hindert, sich des Kleinen und Schwachen anzunehmen. „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst?“ Das ist der erstaunte Ausruf des Menschen, der vielleicht zum ersten Mal in der Tiefe begreift, was der Mensch Gott bedeutet: daß wir von ihm geschaffen und auf ihn hin angelegt sind; daß wir nicht der Vergänglichkeit anheimfallen, sondern ihn ihm ewiges Leben erwarten dürfen.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, es waren nur Bilder einer Ausstellung, die mich angesprochen und in den zurückliegenden Monaten begleitet haben: Bilder allerdings, die unter die Haut gehen, weil sie Bilder meiner selbst sind. Sie sprechen von meiner menschlichen Begrenztheit und Hinfälligkeit, aber auch von meiner Würde, die mir niemand nehmen kann. Vor allem aber sprechen sie mir von Gott, in dem ich mich gehalten und geborgen weiß, im Leben und im Sterben. Möge es so bleiben, auch im kommenden Jahr. Ich wünsche es Ihnen.