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| Kirche in WDR 2-5

Aufbruch im Dunkeln

Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer,

Unlängst bekam ich Post von einem guten Freund. Er hatte mir ein Foto geschickt von einer Bergtour, die wir im letzten Jahr mit anderen Freunden unternommen hatten. Das Foto zeigt schemenhaft Gestalten vor einem dunklen, noch undifferenzierten Hintergrund. Aber man kann bereits ahnen: noch wenige Minuten, dann werden die ersten Strahlen des Morgenlichts die Landschaft in eine grandiose Kulisse tauchen. Auf der Rückseite des Fotos steht: “Aufbruch im Dunkeln.”

Und es war wirklich so: Wir hatten früh aufbrechen müssen: in der Berghütte wurde bereits nachts um halb vier geweckt; mit sicheren Handgriffen der Rucksack gepackt, ein Schluck Kaffee, und dann ging es daran, Gurte anzulegen, das Seil zu ordnen, die Steigeisen bereitzulegen. Schließlich führte die Tour über einige Gletscher und Schneefelder bis hin zum Gipfel.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, im Dunkeln aufzubrechen: zu nachtschlafender Zeit, schweigend, im schwachen Licht des Mondes. Und doch war uns allen klar: wenn wir nicht jetzt, im Dunkeln, aufbrechen, werden wir das Ziel, den Gipfel, nicht erreichen.

Das Foto von unserer Seilschaft liegt jetzt auf meinem Schreibtisch. Von Zeit zu Zeit werde ich bei meiner Arbeit so darauf gestoßen, daß es nicht nur Bergtouren gibt, wo man aufbrechen muß, wenn man draußen noch nichts sieht. Es gibt auch Situationen in den Niederungen des Alltags, wo es gilt, im Dunkeln aufzubrechen:

ohne genau zu sehen, wohin der Weg führt.

- “ja” zu sagen, wenn eine Schwierigkeit, ein Problem auftaucht, auch ohne eine Lösung parat zu haben,

- eine Niederlage oder ein Mißgeschick anzunehmen, ohne zu wissen, wofür das gut sein soll,

- Und das mag auch bedeuten, einzuwilligen in eine Krankheit, einen Verlust, ohne zu verstehen, was das für einen Sinn hat.

Denn ich weiß: ich kann mich lange im Schmerz, in der Trauer, in Resignation und Lethargie aufhalten, aber dem Ziel komme ich nur näher, wenn ich innerlich akzeptiere, mein “ja” sage und weitergehe - auch wenn es in mir dunkel ist. “Du mußt”, hat mir ein Freund verraten, “gleichsam durch die Wunde hindurch gehen”. Er hat mich daran erinnert, daß auch Jesus, obwohl er Gottes Sohn war, Leid und selbst Tod in Gottverlassenheit nicht erspart worden ist. So ist er uns vorausgegangen und ruft uns von jenseits der Wunde zu: “Habt Mut, ich habe die Welt besiegt!”

Aufbruch im Dunkeln: das Bild unserer Seilschaft ist seither für mich ein Lebens-Programm, nicht nur für den heutigen Tag. Vielleicht ist es eine Ermutigung auch für Sie. Ich wünsche Ihnen und mir einen mutigen Aufbruch in den Tag – möglicherweise im Dunkeln, aber auf jeden Fall dem Licht entgegen!

 

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Aufbrechen ins Schweigen

„Geh von den Menschen, schweige
Ruh in der Bergmulde - traumlos
Schau in die Sonne - stundenlang
Horch in das Schweigen - herbsttags
Geh zu den Menschen - rede.“

Seit ich, verehrte Hörerinnen und Hörer, in Studentenjahren dieses Gedicht gehört habe, ist es mir nie ganz aus dem Kopf gegangen. Es ist, als meldeten sich tiefere Schichten meiner selbst zu Wort,

-  Schichten, die im Hin und Her, in der Geschäftigkeit des Alltags verloren zu gehen drohen,
-  jene Sehnsucht nach Stille, Schweigen, nach Besinnung.

Manchem mag es ähnlich gehen in diesen Tagen:
- „Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen!“
- so höre ich auch von Kollegen.
- „Es wird höchste Zeit, daß bald der Urlaub kommt!“

Oft ist es einfach nur der stumme Notschrei: „Ich kann nicht mehr“
-  nur raus, weit weg, keinen hören und niemanden sehen ...

Geh von den Menschen, schweige
Ruh in der Bergmulde - traumlos
Schau in die Sonne - stundenlang
Horch in das Schweigen - herbsttags

Aber es ist nicht nur Hektik und Streß, es ist auch die Geschäftigkeit, die Unruhe in mir selbst. Dann ärgere ich mich über mich selbst: Warum muß ich denn, kaum daß ich im Auto sitze, das Radio anstellen, oder zu hause ´mal eben gucken, ob auf irgend einem Fernsehkanal noch Nachrichten laufen - zapping, nennt man das heute.

„Vollgestopft und unerfüllt“, so komme ich mir oft vor, angefüllt mit vielem, was mich gefangen nimmt, was mir im Moment so wichtig erscheint

- und was doch, wenn es auf Letzte und Ganze geht, unwesentlich ist.

„Vollgestopft und unerfüllt“, und zugleich auf der Suche nach Stille, nach Echtem, nach Erfüllung. Aber wer randvoll ist mit Erlebtem, Bedrängendem, Unverarbeitetem, der kann gar nichts Neues in sich aufnehmen, und wäre es noch so kostbar und wichtig.

So geht es mir gegenüber Menschen: Bei mir hat sich ’mal jemand bedankt, daß wir ein gutes Gespräch hatten. Dabei hatte ich nichts weiter getan als zuzuhören, innerlich leer und aufmerksam zu sein, um mit ganzer Intensität in mich aufzunehmen, was der andere mir sagen wollte. So geht es mir auch mit Gott.

Es können nicht beide sprechen: Gott und ich. Ich brauche in mir diese innere Leere, die auf Fülle, Erfüllung angelegt ist. ich brauche in mir jenes Schweigen, das Sein Wort aufnehmen kann. „Gott spricht unaufhörlich“, so heißt es in den Erzählungen der Chassidim, „aber er wiederholt sich nie!“ Also brauche ich nicht ständig auf Gott einzureden, sondern mich schlicht hineinhalten in die Wirklichkeit Gottes, seiner Gegenwart innewerden.

„Geh von den Menschen, schweige
Ruh in der Bergmulde - traumlos
Schau in die Sonne - stundenlang
Horch in das Schweigen - herbsttags.“

Verehrte Hörerinnen und Hörer,

Die Ferien werden irgendwann vorbei sein, der Alltag uns wieder haben: Das Geschäft und die Geschäftigkeit des Alltags werden uns bald wieder einholen. Dann wird sich zeigen müssen, ob auch die letzte Zeile des Gedichts greift:

Geh zu den Menschen, rede ...

und sei es nur ein Wort: ein Wort allerdings, das aus dem Schweigen kommt!

Ich wünsche Ihnen heute dieses Wort!

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Aufbrechen zu mir selbst

„Bitte laß dich nicht durch mein Gesicht täuschen. Ich mache den Eindruck, als sei ich umgänglich, als sei alles sonnig und heiter in mir, innen wie außen. Aber glaube mir nicht. Beim bloßen Gedanken an meine Schwächen bekomme ich Panik und fürchte mich davor, mich anderen überhaupt auszusetzen. Gerade deshalb erfinde ich verzweifelte Masken, hinter denen ich mich verbergen kann: eine lässige, kluge Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen - die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde. Dabei wäre gerade dieser Blick meine Rettung. Und ich weiß es. Wenn es verbunden wäre mit Angenommen-werden, mit Liebe. Das würde mir die Sicherheit geben, die ich mir selbst nicht geben kann. Die Sicherheit, daß ich etwas wert bin.“

Dieser Brief, meine Hörerinnen und Hörer, ist zwanzig Jahre alt und war an mich und einige Studienkollegen gerichtet. Er hat uns damals sehr nachdenklich gestimmt. Mich berührte zutiefst, daß da einer aussprach, was viele von uns ähnlich empfanden: Da hatte einer den Mut, Schwäche zu zeigen und von seiner Sehnsucht zu sprechen: nach Mitgefühl, nach Verstehen, nach Angenommen sein - die Sehnsucht wohl jedes Menschen.

Und gleichzeitig fühlten wir uns überfordert. Wer kann schon einem anderen letzte Sicherheit geben, daß sein Leben gelingt und nicht letztlich ins Leere geht? Wer kann schon einem von sich behaupten, er könne die Schutzmauern der Angst aufbrechen, den anderen herausholen aus aller Einsamkeit und Verlassenheit?

Wenn mir eines in all den Jahren klar geworden ist, dann dies: Ich bin glücklich, mit allen Fasern meiner Existenz daran glauben zu können, daß Gott mich liebt; daß er jeden Menschen erschaffen hat und ihn anschaut mit liebendem Blick.

Die Heilige Schrift sagt es uns; der Geist Gottes flüstert es uns unentwegt ins Ohr: Gott ist Liebe. Vor Ihm hat der Mensch eine unendliche Würde. Er bricht die Mauern meines verschlossenen Herzens auf. Und wo ich mich selbst nicht annehmen kann: Gott kann es. Und er tut es.

Das ist es, was wir auch einander sagen sollten. Auch heute, wenn wir mit anderen Menschen zusammentreffen, wenn Menschen an uns vorübergehen: Menschen, die - vielleicht verschämt - auf einen verstehenden, liebenden Blick warten. Menschen, die insgeheim eben solch einen Brief an uns richten könnten.

„Jedesmal“, so hieß es weiter in jenem Brief, „jedesmal, wenn du freundlich bist und mir Mut machst, wenn du mich zu verstehen suchst, weil du dich wirklich um mich sorgst, bekommt mein Herz Flügel - sehr kleine, brüchige Schwingen, aber Flügel. Dein Mitgefühl und die Kraft des Verstehens machen mich lebendig“

Dies, meine Hörerinnen und Hörer, ist allemal Grund genug für einen guten Tag!     

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