6. „Auf ewig werde ich nicht zuschanden!“
Verehrte Hörerinnen und Hörer.
In den Morgenandachten dieser Woche hat uns Mose begleitet. Wenn man das Leben des Mose wie in einem Film betrachten wollte, so fehlt noch eine letzte Kameraeinstellung, nämlich die alles entscheidende, die Schlußszene, das happy end: endlich anzukommen nach 40 Jahren elender Wanderschaft anzukommen in dem Land, das Gott versprochen hat - anzukommen, um für immer daheim zu sein. Die Israeliten werden schließlich auch hineinziehen und das verheißene Land Kanaan in Besitz nehmen - doch ohne Mose. Mose selbst hat jenes Land nie betreten.
Sie bleibt rätselhaft, die Schlußszene im Leben dieses großen Mannes, sein Lebenswerk, vordergründig betrachtet, ein Torso. Gott läßt ihn zwar heraufsteigen auf den Berg Nebo, er selbst zeigt ihm die ganze Pracht des Landes, die er vor ihm ausbreitet. Hinüberziehen aber wird das Volk mit einem anderen an der Spitze. Mose selbst muß zurückbleiben. Seine Mission war erfüllt. An ihm war es, nun auch selber anzukommen. Auf der Reise seines eigenen Lebens.
Mose tritt hinter Gottes Werk zurück, ganz frei und losgelöst. Er ist ein Mensch, der anerkennt, daß für ihn die Zeit gekommen ist, seine eigene Grenze anzunehmen und sich von allem zu lösen: von den Menschen, die ihm unterwegs so ans Herz gewachsen sind, von den Zielen, die er sich selbst noch einmal gesteckt hat, auch von dem Guten, das er gewirkt hat. Jetzt, an dieser letzten Grenze, bleibt nur noch eines: Gott zu vertrauen, der ihn sein Leben lang geführt hat. „Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Frommen“, so heißt es in einem Psalm. Kostbar ist auch jenes letzte Zurückbleiben des Mose: ohne Gram, aber voller Hoffnung.
Annehmen, loslassen, zurückbleiben - das ist eine lebenslange Aufgabe, die sich jedem stellt, ob er sie annehmen will oder letztendlich erleiden muß. Freigeben müssen:
- die Kinder, die einem entwachsen und schließlich ganz aus dem Haus gehen
- den Partner, der uns verläßt und eine Leere zurückläßt, die nicht zu füllen ist
- die kleinen und großen Lebensträume, die über Nacht ausgeträumt sind und die uns zwingen, uns der Wirklichkeit, den Realitäten zu stellen ...
Leben lernen, so hat ein großer Dichter einmal gesagt, heißt immer auch sterben lernen, heißt unterwegs sein: dem verheißenen Lande zu - persönlich, aber auch gemeinsam, als Volk Gottes, wie Mose mit seinem Volk.
Wenn ich an den Tod des Mose denke, steht mir eine Szene vor Augen, die sich mir tief eingeprägt hat: Aachener Dom, Sylvester 1993, der Domchor singt Bruckners „Te Deum“. Und in seiner letzten öffentlichen Predigt greift der damals schon vom Tod gezeichnete Bischof Hemmerle die Schlußworte eben dieses Te Deums auf, jenes gewaltigen Lobgesangs der Kirche, und macht sie sich zu eigen: „In te, Domine, speravi ...“ - „Auf dich, Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt, auf ewig werde ich nicht zuschanden“ Es war gleichsam der Schlußakkord auch seines eigenen Lebens.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, daß wir es lernen, so auf Gott zu vertrauen und unseren Weg vor ihm und mit ihm zu gehen, das wünsche ich uns - heute und an allen Tagen.
5. „Komm mit ins Abenteuerland!“
Komm mit! - verehrte Hörerin, verehrter Hörer,
Komm mit ins Abenteuerland! So beginnt ein Song der Rockgruppe PUR, eine Einladung, sozusagen ein Freifahrtschein, mit ihr auf eine Phantasiereise zu gehen: in ein Land, das neu, geheimnisvoll, unberührt ist ... Eine Ermutigung, den eigenen Gefühlen und Sehnsüchten zu trauen und das eigene Leben mit seinen Chancen und Möglichkeiten neu zu entdecken.
Komm mit ins Abenteuerland! Wäre das nicht auch ein Motto für Mose gewesen: für den Auszug aus Ägypten und den mühsamen, langen Weg durch die Wüste? Vor Augen allein das versprochene, das Gelobte Land, getragen nur von der Verheißung, daß Gott da ist, daß er mitgeht und vorangeht. Wer weiß, ob Mose wirklich aufgebrochen wäre, hätte er gewußt, was in diesem Abenteuerland da alles auf ihn zukommt: das Murren und die ewige Unzufriedenheit der Israeliten, die schleichende Resignation seines Volkes und sein eigenes Gefühl, manchmal von Gott verlassen zu sein. Aber dann auch wieder die spürbare Führung und Nähe Gottes, die zehn Gebote, die er seinem Volk überbringt, die neue Erfahrung, mit Gott - wie die Bibel zu berichten weiß -, „von Angesicht zu Angesicht“ zu reden. Mose wußte das alles nicht, was auf ihn zukommen würde - nur so ist er aufgebrochen - und angekommen! Komm mit ins Abenteuerland! Ein Motto, verehrte Hörerinnen und Hörer, das auch in diesen Tagen, wie schon in den Jahren zuvor Hunderte von Jugendliche zu einem Aktionstag ins Paderborner Priesterseminar locken wird. Junge Leute, die nicht unbedingt Priester werden wollen, denen vielmehr daran liegt, daß es auch morgen in unserem Land Christen gibt, die für ihren Glauben einstehen und die Hand anlegen, an einer besseren, einer menschlichen Welt mitzubauen. Im „Abenteuerland“ unseres Priesterseminars finden sie, wenigstens für diesen einen Tag, Gleichgesinnte, mit denen sie sich verbünden können: in workshops und Gesprächskreisen, in persönlichen Begegnungen wie gemeinsamem Gebet. Es kommt zu Austausch, zu Freundschaften und Vernetzung: - und für viele verstärkt sich dabei der Eindruck, daß sie, denen Kirche, Glaube, Gott etwas bedeutet durchaus nicht, wie manche vielleicht glauben machen, die letzten „Hänger“ sind.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, daß Jugendliche mit so viel Schwung, mit Elan und Engagement auch heute ihr Leben auf Gott ausrichten, das macht mir Mut für unsere Kirche, aber auch für unsere Welt: daß es in ihr noch Idealisten gibt: junge Leute mit Fragen und Zweifeln, aber auch mit Idealen und hochgesteckten Zielen - und der Bereitschaft, für eine gute Sache das eigene Leben und die persönliche Zukunft in die Waagschale zu werfen, in welcher Position und Berufung auch immer.
„Mit meinem Gott den Aufbruch wagen“, das könnte doch auch ein Motto für den heutigen Tag sein. Ganz gleich, wo wir sind und was heute auf uns zukommt. Wir dürfen damit rechnen, daß Er es ist, der mit uns geht und der uns führt. Und ich bin sicher: dann wird dieser Tag tatsächlich ein Aufbruch ins Abenteuerland: Ihm entgegen.
4. Aufstieg zu Gott - Hinwendung zu den Menschen
Wie werde ich ein Geistlicher?
Verehrte Hörerinnen und Hörer,
Seit vier Jahren arbeite ich im Paderborner Priesterseminar und höre immer wieder von Priestern und solchen die es werden wollen, die Frage: Wie werde ich ein Geistlicher? Und: wie gelingt es mir, ein Geistlicher zu bleiben, wenn ich eingespannt bin in das Geflecht von Interessen und Erwartungen, getrieben nicht zuletzt vom eigenen Anspruch, es allen recht zu machen und jedem gerecht zu werden? Da muß man delegieren, motivieren, koordinieren ..., ist zuständig für alles und letztverantwortlich, und soll doch vor allem ein Geistlicher sein, einer, der dafür sorgen soll, daß Gott zum Zuge kommt, und der Glaube eines jeden gestärkt wird.
Wie werde ich ein Geistlicher? Ist das nicht letztlich die Frage eines jeden von uns? Wie kann ich in all dem, was mich fordert, beschäftigt, bedrängt, - In einem Leben zwischen Kindern und Küche, im Spagat zwischen Familie und Beruf - ein geistlicher Mensch sein: jemand, der in all dem die Nähe Gottes sucht und von dort die Kraft bekommt, im Alltag und im Beruf zu bestehen.
Mir scheint, wir könnten da von Mose einiges lernen. Mose, dieser charismatische Führer, dessen Weg über Jahre hinweg nur Wüste kennt, unterwegs mit einem kleingläubigen Volk, Von diesem Mose lese ich, daß er immer wieder sein Volk zurückläßt und auf einen Berg steigt, Wie es heißt, bleibt Mose „dort beim Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte“, Nicht, um sich der schweren und oft lästigen Verantwortung für sein Volk zu entledigen, sondern im Gegenteil: um sich zum Anwalt seiner Leute zu machen. Aus der vertrauten Zwiesprache mit Gott bringt er Worte mit, Lebensregeln, die zehn Gebote.
Beides gehört für ihn zusammen: ganz bei Gott sein und ganz bei den Menschen sein. Und seine Mission ist es, die Menschen mitzunehmen, wenn er sich zu Gott hin aufmacht, die Nähe Gottes mitzubringen, wenn er zu seinem Volk zurückkehrt. Doch Mose bringt nicht nur Worte mit, Aus der Begegnung mit Gottes kommt er verändert zurück, ist er ein anderer: „Während Mose vom Berg hinunterstieg, wußte er nicht, daß die Haut seines Gesichtes Licht ausstrahlte, weil er mit dem Herrn geredet hatte.“
Vielleicht ist es jenes Strahlen, verehrte Hörerinnen und Hörer, das wir mit Christen mit der Zeit verloren haben. Man mag es entschuldigen, man kann es erklären, aber es nimmt unserem Leben letztlich seine Leuchtkraft.
Es müssen nicht unbedingt Berge sein, die wir aufsuchen, es können auch nicht immer 40 Tage und 40 Nächte sein, um uns zurückziehen und Gott zu suchen ...: Aber ich wünsche, daß es uns gelingt, sich ab und zu für einige Minuten innerlich zurückzuziehen, aus der alltäglichen Geschäftigkeit aus-zusteigen - und zu Gott auf-zusteigen: in der Stille, im Gebet, in einem Moment der Besinnung ...
Wie werde ich, wie bleibe ich ein geistlicher Mensch? Ich meine, Mose wäre auch uns ein guter Führer durch diesen Tag. Er würde uns wahrscheinlich ermutigen, ab und zu einmal „auf-zusteigen“ - und ich bin sicher: daß etwas von jenem Strahlen mitgeht, wenn wir dann in unseren Alltag, in unser Leben zurückkehren.
3. „Ich habe das Elend des Volkes gesehen und bin hinabgestiegen“
Verehrte Hörerinnen und Hörer,
Es ist schon eigenartig: da lese ich einen Satz oder höre ein Wort, das mir schon hundert Mal begegnet ist, über das ich hinweggegangen bin - und plötzlich blitzt es auf, springt mich an, da leuchtet es mir ein und läßt mich nicht mehr los.
So geschehen im letzten Jahr, unversehens mitten im Urlaub: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen - und bin hinabgestiegen“ ... Dieses Wort, das Mose nicht minder überraschend trifft, als er nichtsahnend in der Wüste die Schafe hütet, ist 1996 für mich zum „Wort des Jahres“ avanciert: der Gedanke, der mich am meisten umgetrieben und beschäftigt hat.
Gott offenbart sich da als einer, der nicht nur einfachhin über den Dingen steht und dem Lauf der Welt und dem Treiben der Menschen gleichgültig, aus der Distanz heraus zuschaut: Nein, Gott zeigt sich hier als einer, der sieht und der am Geschick seines Volkes höchst lebendig Anteil nimmt, den es nicht in seinem hohen Himmel hält, sondern der hinabsteigt und mitgeht.
Diese Sicht von Gott ist revolutionär, nicht nur für Mose. Es bleibt eben nicht bei den doppelten und unverbundenen Stockwerken: hier die abgeschlossene, sich selbst überlassene Erde mit all ihren Sorgen, Ängsten und Nöten und all der unerlösten Geschäftigkeit dort der über alle Unvollkommenheit erhabene und verschlossene Himmel Nein: Gott ist kein stiller Beobachter, der besserwisserisch am Ende des Weges steht und wartet, daß wir dort bei ihm ankommen. Oder der sich mit Schaudern abwendet, da er das Elend der Menschen sieht. Gott ist keineswegs der über alles Leid Erhabene, Unberührbare: er macht sich sozusagen die Finger schmutzig und steigt hinab, er gibt sich ab mit dem störrischen und widerspenstigen Volk. Er nimmt jeden ernst mit seinen Sorgen, seinen Fragen und Ängsten: zur Zeit des Mose ebenso wie heute. In Jesus ist er gar hinabgestiegen bis ans Kreuz und in das Reich des Todes, wie wir im Glaubensbekenntnis sagen. Und wenn er in das Elend hinabgestiegen ist, dann läßt er sich dort auch finden. Dann gibt es nichts mehr, das so schlimm, so gräßlich wäre, daß Gott nicht auch dort berührbar, erfahrbar wäre. Ich muß an jene Frau denken, die mir von der Alkoholabhängigkeit ihres Mannes berichtete, von dem Leid, daß diese Krankheit über die Familie gebracht hat, von dem Verlust der Arbeit, der eingereichten Scheidung, und die doch nicht verzweifelt und an den Sinn des Lebens glaubt.
Meine Gedanken wandern zu den Bewohnern des Dorfes Orasja in Bosnien. Dort haben Jugendliche aus Deutschland im letzten Sommer beim Aufbau des Kindergartens und der zerstörten Häuser geholfen. Die Dorfbewohner waren von der konkreten Anteilnahme der Fremden ganz überwältigt und sagten am Ende: Daß Ihr gekommen seid, war das größte Geschenk, das ihr uns machen konntet. Euer Kommen hat uns gezeigt, daß die Welt uns nicht vergessen hat ... „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen - und bin hinabgestiegen“ ...
Aber Gott bewendet es nicht bei Worten der Anteilnahme, bei der bloßen Betroffenheit. „Die laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid ...Und jetzt geh: ich sende dich...! Führe Du mein Volk ... aus Ägypten heraus!“ Wer es mit Gott zu tun bekommt, der wird auch in die Pflicht genommen. Aus der Gotteserfahrung erwächst der Auftrag. Für Mose heißt es, sich ebenfalls in die Abwärtsbewegung zu begeben. Wie könnte er, wenn Gott so tief hinabsteigt, erhobenen Hauptes und unbeeindruckt über das Leid der Menschen und die Not des Nächsten hinwegsehen? - eine Sendung, der Mose sich in keiner Weise gewachsen fühlt:
Der weitere Verlauf der Geschichte: Für Mose hat diese Stimme zur Folge, daß er seine Zurückgezogenheit und sein beschauliches Leben in der Wüste aufgibt, daß er auf Gottes Geheiß aufbricht in die Zentrale der damaligen Macht daß er sich zum Anwalt des unterdrückten und entrechteten Volkes macht.
„Ich habe das Elend meines Volkes gesehen - und bin hinabgestiegen“ ... Mein persönliches „Wort des Jahres 1996“ hat mir ein Stück mehr die Augen geöffnet und meine Ehrfurcht wachsen lassen: vor meinem Gott, der die Größe hat, hinabzusteigen.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie Spuren Seiner Anteilnahme auch in Ihrem Leben entdecken.
2. „Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer.
Die Stimme, die ihn damals rief, als er total am Ende war, jene Stimme wird Mose wohl Zeit seines Lebens in den Ohren geklungen haben: „Mose! Mose! Zieh die Schuhe aus; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!“ Es ist die Stimme Gottes, die Mose aus dem Brennenden Dornbusch gehört haben will. Mose, der jüdische Adoptivsohn des Pharao, des gottgleichen Herrschers im alten Ägypten - dieser Mose hatte alles aufs Spiel gesetzt: Reichtum, Freiheit, ja sein eigenes Leben, nur um einem einzigen Menschen, einem jüdischen Sklaven, das Leben zu retten. In einem Anflug von Großmut hatte er sich auf die Seite seines gepeinigten und unterdrückten Volkes gestellt und in kalter Wut einen der verhaßten ägyptischen Sklaveraufseher getötet. Doch seine Heldentat blieb nicht geheim - und, was schlimmer war, seine mutige Tat erntete nicht Dank, sondern Verrat, und zwar von eben jenem Hebräer, den Mose gerettet hatte. Die Enttäuschung muß für Mose maßlos gewesen sein: die Enttäuschung über sich selbst: den Überlebenden, der selbst zum Täter, zum Mörder geworden war; die Enttäuschung über den Geretteten, seinen Stammesgenossen, der zum Verräter, zum Denunzianten geworden war ... Am Ende steht nur das blanke Entsetzen, die panische Angst Mose flieht in die Wüste, will endlich zur Ruhe kommen, vergessen. Er heiratet die Tochter eines heidnischen Priesters und wird Schafhirt. Er, der so große Ideale und hochfliegende Pläne hatte, selbstlos und voll guten Willens, er siedelt sich nun in der Mittelmäßigkeit an: eine gescheiterte, eine verkrachte Existenz. Und ausgerechnet hier, am vermeintlichen Ende seines Lebens, macht er die Entdeckung seines Lebens: jene Stimme aus dem Feuer, die ihm zuruft: „der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!" Der Ort eigener Schuld und Versagens, der Ort der Mittelmäßigkeit und innerer Erschöpfung: genau das ist der Ort, wo Gottes Stimme vernehmbar und seine Nähe spürbar wird.
Für mich ist diese Seite aus dem Alten Testament eines der ganz großen Kapitel der Weltliteratur und eine der tiefgreifendsten Lektionen auch meines eigenen Lebens. Wie oft habe ich nicht für eine gute Sache gekämpft und mich selbst dabei nicht geschont! Und wie tief hat es mich verletzt, wenn ich dann in meinen guten Absichten verkannt wurde, wenn mir Mißtrauen und Ablehnung und Spott entgegengebracht wurde! Undank ist zwar der Welten Lohn ... aber wenn man gerade von denen abgelehnt wird, für die man sich eingesetzt hat ...: das tut weh! Da ist es nur natürlich, wenn man sich Luft verschafft, das Weite sucht, den anderen sich selbst überläßt. „Ihr könnt mich ´mal! - Ich mache nur noch meine Sache. Sollen sie doch sehen, wo sie bleiben, wie sie durchkommen. Ich muß auch mal an mich denken. ...“
Mose in der Wüste: er ist das Paradebeispiel des Verletzten und Verkannten ... und es braucht lange, bis dieser Ärger verraucht, die verletzte Liebe geheilt ist: im Schweigen, im Abstand und seelischen Dunkel. Und genau dies ist der Ort, wo Gott einen Menschen ansprechen, ihn erreichen kann: „Mose, Mose, zieh die Schuhe aus; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!“ Mitten in meiner Schuld, meiner Versagensgeschichte, in meiner verletzten Eitelkeit und selbstgewählten Enge ist es Gott, der mich anspricht, mich auf die Füße stellt, und der mir sagt: „Der Ort, wo du stehst: ist heiliger Boden!“ Solcher Boden unter den Füßen trägt: es ist „heiliger Boden“, und den wünsche ich Ihnen - und mir - für den heutigen Tag.
1. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...“
Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer. Ich hoffe, daß dies ein guter Morgen ist, dass Sie mit Optimismus und Zuversicht in den Tag und in die neue Woche gehen können.
Für den einen ist es die heitere Gelassenheit dessen, der sich auf den Urlaub und die verdiente Arbeitspause freut - oder etwa die frohe Erwartung eines lieben Menschen. Für den anderen sind es vielleicht dumpfe Vorahnungen, die Gewißheit, daß die Trauer von gestern oder die Schmerzen der Nacht mitgehen werden auch in diesen neuen Tag.
Für andere schließlich ist es der gleiche Trott, mit dem dieser Tag anfängt wie schon tausend andere vor ihm. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen, Erwartungen und Hoffnungen, die ihn tragen und begleiten - oder auch Erinnerungen: zum Beispiel daran, daß das Leben lebens- und liebenswert ist.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, heißt es in einem Gedicht von Hermann Hesse. Dieser Zauber des Anfangs: Könnte nicht auch er ein Begleiter durch den Tag sein? Die Erinnerung an jenen Glanz, der schon vom ersten Tag an über unserem Leben liegt?
Wenn ich an meinen Lebensanfang denke, dann war mein Leben schon bei der Geburt gefährdet. Aus dem Tagebuch meiner Mutter weiß ich, daß damals bereits mein Leben und das meiner Mutter auf dem Spiel stand. Von dem Kaiserschnitt, der uns beiden das Leben gerettet hat, habe ich eine kleine Narbe zurückbehalten. Eine Narbe, die mitgewachsen und gut sichtbar ist: die mich eben daran erinnert: an den Zauber, der mein Leben schon vom ersten Tag an begleitet: die Liebe meiner Mutter, die Obhut eines Gottes, „der mich beschützt und der mir hilft zu leben“.
An diese kleine Narbe mußte ich denken, als mir vor einiger Zeit die Geschichte des jungen Mose wieder in den Sinn kam: jenes Säuglings, damals im alten Ägypten, der nicht wie alle anderen hebräischen Knaben auf den Befehl des Pharao sofort nach der Geburt getötet wurde, sondern von seiner Mutter in einem Binsenkörbchen ausgesetzt wurde - und so überlebte! Auf wunderbare Weise wurde er aus dem Nil gefischt: und von der Tochter des Pharao großgezogen.
„Mose“ - das heißt wörtlich: der „Herausgezogene“. Und ich denke mir, sein Name wird ihn zeitlebens daran erinnert haben, daß Gott es ist, der rettet und heilt und der es gut mit uns meint.
Meine Hörerinnen und Hörer, ich wünsche, daß etwas von diesem Zauber mitgeht, wenn wir diesen neuen Tag in Angriff nehmen. Und vielleicht entdecken Sie auch in Ihrem Leben Spuren eines solchen Zaubers und lesen darin die Handschrift des Gottes, der Sie liebt.
Mose - der „Herausgezogene“. Für mich steht dieser Name für ein Programm, ein Lebensprogramm: Für die Gewißheit, daß dieser Morgen wie jeder andere gar nicht schlecht anfangen kann. Er hat bereits gut begonnen - was immer heute noch dazukommen mag.
Es ist bereits ein „guter Morgen“. Den wünsche ich Ihnen.
„Für wen gehst du?“
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer, mein Name ist Peter Klasvogt. Ich lebe in Paderborn und bin als Regens des Priesterseminars für die Ausbildung katholischer Priester tätig.
Von Martin Buber gibt es eine Erzählung: „Für wen gehst du?“ Sie handelt von Rabbi Naftali, der spät abends in einer abgelegenen Gegend auf einen Nachtwächter stößt. „Für wen gehst du?“, fragt er ihn. Der Mann gibt an, in wessen Auftrag er arbeitet, und stellt die Gegenfrage: „Und für wen geht Ihr, Rabbi?“
- Das Wort trifft den frommen Mann wie ein Pfeil. „Noch gehe ich für niemand“ bringt er mühsam hervor, dann schreitet er lange schweigend neben dem Mann auf und nieder.
„Willst du nicht mein Diener werden?“, fragt er endlich. „Das will ich gern“, antwortet jener, „aber was habe ich zu tun?“ - „Mich zu erinnern“, sagt Rabbi Naftali.
- Musik -
„Für wen gehst du?“, die Frage, verehrte Hörerinnen und Hörer, erscheint in der heutigen Zeit ziemlich überflüssig und abwegig. „Natürlich gehe ich für mich.“ Ich bin mein eigener Herr und entscheide frei, was ich mache und was ich lasse. Doch diese Freiheit und Ungebundenheit kann auch ganz schön anstrengend und belastend sein. Manch einer erlebt es oft geradezu beängstigend, daß er sich selbst überlassen ist und sich ständig neu entscheiden muß. In der Zeit der antiautoritären Erziehung gab es schon ´mal das spöttische Bedauern über die Kinder, die am Morgen in die Schule kommen und fragen: „müssen wir schon wieder tun, was wir wollen?“
„Für wen gehst Du?“ - Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß diese Frage auch verlegen macht: „Noch gehe ich für niemand.“ So antwortet jemand, der noch auf der Straße ist, der noch keinen gefunden hat, der ihn in Dienst nimmt. Klingt darin nicht auch die Not vieler Menschen heute an: ich habe etwas gelernt und kann ´was - aber ich finde keine Arbeit;
ich bin talentiert und begabt, ich habe etwas anzubieten und will etwas tun - aber man braucht mich nicht. Ich habe zwar mein Auskommen und meine Rente - aber mein Wissen, meine Lebenserfahrung ist scheinbar nicht gefragt. Leider.
Aber auch derjenige, der Arbeit hat, vielleicht zuviel Arbeit hat, reagiert auf die Frage des Nachtwächters möglicherweise irritiert: ich hetze und rackere, ich mache alles Mögliche und reiße mir die Beine aus ... - aber wofür tue ich das eigentlich? Ich habe zwar viel zu tun, so viel, daß ich gar nicht zum Nachdenken komme - aber ob da ein Sinn d´rin steckt: das steht auf einem ganz anderen Blatt ...
Fragen, die nachdenklich stimmen, wenn man sich ihnen aussetzt: „Was tust du? Für wen gehst Du?“ - Die Frage setzt letztlich tiefer, am ureigensten Lebensnerv an: Worauf setzt du eigentlich in deinem Leben? Wofür lohnt es sich wirklich, Zeit und Kraft und Energie einzusetzen?
- für eine gute Sache etwa, für ein hohes Ideal - oder auch für einen Menschen, der mir lieb und teuer ist, der mich versteht und mit mir durch dick und dünn geht, für meine Familie, die Kinder oder ...
- oder für einen, der mich ruft, mich in seinen Dienst ruft...
„Beruf“ hat mit „Berufung“ zu tun: etwas Sinnvolles tun; etwas, wozu man sich berufen fühlt, wozu man sich gerufen weiß.
Das ist es, was den Rabbi in unserer Geschichte offensichtlich so erschüttert: von Gott innerlich angerührt zu sein, berufen, mit ihm zu leben und für ihn zu gehen - und über das alltägliche Einerlei ihn vergessen zu haben.
Das Feuer der ersten Begeisterung - es ist im Laufe der Zeit zur Sparflamme, zum glimmenden Docht geworden ...
- Musik -
„Für wen gehst Du?“ - das ist nicht nur eine Frage an den alten Rabbi in einer uns sehr fernen Märchenwelt. Es ist eine Stimme, die auch heute durch die Wolkenmauer des Vergessens, der Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit dringt und uns „in Frage“ stellt. Eine Frage, die in uns steckt und der wir uns letztlich nicht entziehen können: „Für wen gehst Du?“ Was machst Du aus deinem Leben? - und: „Gibt es Ideale, für die du dich begeistern kannst, für die es sich zu arbeiten und zu leben lohnt?"
Ich habe einige junge Leute danach gefragt, wofür sie leben. Hier ihre Antwort:
Ich heiße Karin Krohn, bin 28 Jahre alt und gebe zur Zeit Religionsunterricht in einer Grundschule.
Vor einigen Jahren habe ich die Benediktinerabtei Münsterschwarzach kennengelernt, wo Kurse für Jugendliche und Erwachsene angeboten werden und die Möglichkeit besteht, am Leben der Mönche teilzunehmen.
Ich war damals aus christlicher Überzeugung Krankenschwester geworden und engagierte mich ehrenamtlich in der Pfarrgemeinde: in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit. Was wollte ich mehr? Mein Soll an Aktivitäten in der Kirche hatte ich doch erfüllt. Und trotzdem zog es mich immer wieder dahin, solche geistlichen Tage im Kloster zu verbringen.
Das Leben der Mönche strahlte etwas aus; es erschien mir echt und stimmig. Mit der Zeit ist auch mein Glaube lebendiger geworden, und ich habe mich entschlossen, Religionspädagogik zu studieren. Die Begegnungen mit den Männern und Frauen in der Abtei ermutigen mich, mit anderen meinen Weg zu gehen - in eine lebendige, anziehende Kirche.
Ich bin Dirk Salzmann, 22 Jahre alt. Ich habe zunächst Großhandelskaufmann gelernt und habe dann auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt. Wenn mich jemand fragen würde, für wen ich gehe, so könnte ich das nur von meiner eigenen Lebensgeschichte her beantworten. Ich bin in einer ganz gewöhnlichen Familie aufgewachsen. Unser Zusammenleben war ganz harmonisch. Ich hatte alles, was ich brauchte. Wir gingen jeden Sonntag zur Kirche, meine Eltern waren wie ich in der Gemeinde aktiv und waren sehr gesellig. Man kann, glaube ich, sagen, daß unsere Eltern in der Gemeinde sehr beliebt waren. Als uns meine Mutter dann buchstäblich von einem Tag auf den anderen verließ und zu einem anderen Mann zog, traf mich das wie ein Schlag. Ich war damals 19 Jahre alt. Auch mein älterer Bruder hat das nicht verkraftet und mußte bald darauf für längere Zeit ins Krankenhaus. Mit einem Mal war all das, was immer so sicher und fest erschien, zerbrochen. Ich konnte nur hilflos zusehen, wie meine Familie immer mehr zerbröckelte.
Zu der Zeit fragte ich mich, was denn bleibt, wofür ich leben kann, für wen ich gehen kann. Die einzige Antwort, die ich fand, war: Gott. Gott bleibt, auch wenn alles andere zerbricht. So habe ich ganz neu auf ihn gesetzt. Für ihn will ich leben. Dabei habe ich gespürt, wie mich diese Entscheidung unwahrscheinlich frei werden läßt.
Mein Name ist Ansgar Eickelmann. Ich bin 26 Jahre alt und werde, während diese Sendung ausgestrahlt wird, in der katholischen Stadtpfarrkirche in Iserlohn zusammen mit 10 anderen Priesterkandidaten zum Diakon, zum Dienst an der Gemeinde geweiht.
Wenn ich mich ganz auf Gott einlasse, ist das ein Wagnis. Ich weiß das, aber ich tue es in der Gewißheit, daß ich für einen gehe, der mich kennt und der bereits einen langen Weg mit mir gegangen ist.
Schon lange spüre ich, daß Gott mir nahe ist, und ich merke, wie er an ganz wichtigen Punkten in mein Leben eingegriffen hat.
Für wen gehe ich also? Ich gehe für einen Gott, vor dem ich keine Verrenkung machen muß, um ihm zu gefallen und dem, so glaube ich, an nichts mehr liegt als mich glücklich zu sehen. Ein Gott, der an meinem Leben Anteil nehmen möchte und von dem ich mich unendlich geliebt weiß.
Immer wieder waren es bestimmte Menschen, die mich fasziniert haben: man merkte ihnen an, daß sie in ihrem Leben mit Gott zu tun hatten, daß sie für Gott lebten, und es war offenkundig, wie sie sich mit der Zeit positiv veränderten. Der Umgang mit ihnen hat in mir oft die Frage zurückgelassen: Und für wen gehst du?
Nach und nach wurde mir klar, daß ich nicht „für ihn gehen kann“, wenn ich nicht mit ihm gehen kann. Und daß es Menschen an meiner Seite braucht, die den Weg im Glauben mitgehen: Menschen, für die Gott genauso wichtig ist wie für mich. So erfahre ich Gott zunehmend als einen lebendigen Gott, der seinen Wohnort mitten unter den Menschen hat.
- Musik -
„Willst du nicht mein Diener werden?“, fragt der Rabbi endlich. „Das will ich gern“, antwortet der Nachtwächter, „aber was habe ich zu tun?“ - „Mich zu erinnern“, sagt Rabbi Naftali.
Verehrte Hörerinnen und Hörer, finden Sie nicht auch: es braucht auch heute Menschen, die sich in den Dienst Gottes und der anderen stellen - einfach, weil sie uns daran erinnern, daß es sich lohnt, für Gott zu leben und für ihn zu gehen. Mag sein, daß sie zuweilen als Traumtänzer, als Himmelskomiker oder Nachtwächter belächelt werden. Aber die Frage kann ihnen niemand verbieten: „Für wen gehst Du?"
- Musik -
Das war das Geistliche Wort, heute aus der katholischen Kirche. Es verabschieden sich von Ihnen Peter Klasvogt, Karin Krohn, Dirk Salzmann und Ansgar Eickelmann. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen und erholsamen Sonntag.
Aufbrechen zueinander: Liborius
Verehrte Hörerinnen und Hörer, guten Morgen!
Das dürften Sie sich nicht entgehen lassen, wären Sie heute in Paderborn! Ein merkwürdiger Zug bewegt sich da, vom Dom kommend, durch die Innenstadt:
- Männer in historischen Gewändern
- Fanfarenstöße, die den Zug begleiten,
- ein goldener Schrein.
Die Prozession erinnert an ein Ereignis vor über 1150 Jahren. Damals, im Jahre 836, war eine Gesandtschaft ins Reich der Franken aufgebrochen: mit einem für unser Verständnis äußerst ungewöhnlichen Auftrag: die Gebeine eines Heiligen nach Paderborn zu bringen. Es war ein langer, beschwerlicher Weg mit all den Strapazen und Gefahren einer solchen Reise, noch dazu unter den damaligen Verhältnissen. Dahinter stand das tiefe Bedürfnis, sich in den Glauben der schon bewährten Kirchen des Frankenreiches hineinzustellen: sich mit ihnen zu verbinden und zu verbünden - zu einem “Liebesbund ewiger Bruderschaft”, wie er damals mit der Kirche von Le Mans geschlossen wurde. Eine Freundschaft über Grenzen hinweg, gegründet auf dem Fundament des gemeinsamen christlichen Glaubens.
Aber unsere germanischen Vorfahren waren handfeste Leute, die nicht mit einer Freundschaftsurkunde und wohlfeilen Worten allein zu gewinnen waren. Was sie verlangten, waren Taten, konkrete Zeichen der Verbundenheit. Und das war nichts Geringeres als Anteil zu erhalten an dem, was den Glaubensbrüdern in Le Mans damals heilig war: die in Ehren gehaltenen Gebeine eines bedeutenden Bischofs der Stadt, des heiligen Liborius.
Freundschaft und Verbundenheit unter Christen: in Christus, die über das Grab hinaus dauert, das war es, was die junge Kirche in Paderborn erhoffte: Freundschaft, die den Tod überdauert, gegründet im Ewigen.
So entstand die wohl älteste Städtefreundschaft, mitten im Herzen von Europa, die alle Stürme der Zeit überdauert hat, selbst in Zeiten von Feindschaft und Krieg zwischen Franzosen und Deutschen.
Anteil nehmen am Heiligen - Anteil geben an dem, was mir heilig ist: wäre das nicht auch heute eine durchaus ernstzunehmende Weise, Freundschaft zu besiegeln und zu erhalten? Es müssen ja nicht unbedingt Reliquien sein, die wir tauschen. Aber mich hinein halten in den Glauben dessen, der schon in seinem Christsein gefestigt ist; von meinem persönlichen Glauben Zeugnis geben: dem, der mich danach fragt: wäre das nicht eine moderne Form, Freundschaft in Christus zu besiegeln, gegründet in dem, was uns gemeinsam heilig ist?
Eine gute Perspektive für den Tag - und weit darüber hinaus.
Aufbrechen zu den Quellen
Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer.
Ad fontes! Zu den Quellen!
Jedesmal, wenn ich am Paderborner Dom vorbeikomme, halte ich inne und schaue fasziniert auf das Wasser, das rings um den Dom hervorsprudelt. Mehr als 150 Quellen brechen dort auf: unter dem Dom, an der alten Kaiserpfalz, in den umliegenden Aue, so viele Quellen, daß ein Fluß daraus entsteht: die Pader, die unterhalb des Doms ihren Anfang nimmt.
Und immer muß ich dann an die Vision des Ezechiel denken, jene phantastische Geschichte aus dem Alten Testament, in der der Prophet davon träumt, daß unter der Schwelle des Tempels in Jerusalem Wasser hervorströmt. Ausgerechnet unter dem Tempel, für viele damals Inbegriff einer erstarrten und verknöcherten Religion! Und nicht nur das: Dieses Wasser fließt hinab in die Wüste Juda und läuft in das Tote Meer, das so salzig ist, daß nichts, aber auch gar nichts mehr darin leben kann. Und was das Erstaunlichste ist: Wohin dieses Wasser kommt, kehrt das Leben zurück. Das salzige Wasser wird wieder gesund, und im Toten Meer gibt es wieder viele Fische. Und mitten durch die Wüste fließt ein Strom. An seinen Ufern wachsen alle möglichen Obstbäume, deren Laub nicht welkt und deren Zweige immer Frucht tragen.
Eine unglaubliche Vision! Wirklich ein Traum, keine Träumerei. Alles wird lebendig, alles wird heil. Keine Wüste ist so öd und kein Meer so tot, daß Gott nicht auch dort Quellen des Lebens aufbrechen lassen könnte. Quellen, die aus seinem Heiligtum sprudeln.
Es gibt sie, diese Quellen des Lebens, nicht nur in der Vision des Ezechiel: Gott läßt auch heute lebensspendende Quellen aufbrechen: oft gerade da, wo ich es vielleicht nicht mehr zu hoffen gewagt habe.
Unser altehrwürdiger, vielleicht mit den Jahren erstarrter oder erstickter Glaube hat noch immer die Kraft, die Wüste im eigenen Leben wieder zum Blühen zu bringen und unserer ach so toten Gesellschaft wieder Leben einzuhauchen. Die Quellen des Lebens sprudeln auch heute, Gott sorgt dafür. Ja, ich glaube daran, daß Gott schon längst Quellen für heute hat aufbrechen lassen.
Vielleicht muß ich, müssen Sie weit zurückgehen in der eigenen Lebensgeschichte, um an die Quellen eines lebendigen Glaubens zu gelangen;
- vielleicht können wir auch aus den Erfahrungen anderer schöpfen, um die Quellen des Glaubens wieder in uns freizulegen;
Ad fontes! Zu den Quellen also, zu den Quellen unseres Glaubens: zu Gott. Damit so das Leben mit seiner ganzen Blüte und Fülle zurückkehrt! Nicht nur heute! Ich wünsche es Ihnen und mir.
Aufbrechen und mittragen: Christopherus
Heute morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer, möchte ich Sie an die Geschichte des Opherus´ erinnern. Sie kennen sie vielleicht:
Opherus, dieser riesige Kerl, so wird erzählt, war von der Idee besessen, seine guten Dienste allein dem Mächtigsten im Land anzubieten. So verdingt er sich am Hof des Königs, dem er treu und ergeben dient. Doch dann bemerkt er, daß sein Herr den Teufel fürchtet, und so wechselt er alsbald in die Gefolgschaft des Teufels. Aber schon bald stellt er fest: es muß einen geben, der noch mächtiger ist, vor dem sogar der Teufel zittert: Christus. So macht er sich auf die Suche, um Christus seine Dienste anzubieten. Schließlich rät ihm ein Einsiedler, die Pilger über die gefährliche Furt eines reißenden Flusses zu tragen, da er doch so riesige Kräfte habe. So würde er Christus dienen. Opherus willigt ein. Tag und Nacht ist er am Fluß. Jeden trägt er hinüber. Einmal bittet ihn ein Junge, ihn ans andere Ufer hinüberzutragen. Doch das Kind wird schwer, immer schwerer. Nur mit äußerster Mühe erreicht Opherus das andere Ufer, wo ihm der Junge erklärt: “Was auf deinen Schultern lastete, war schwerer als die ganze Welt. Denn es war ihr Schöpfer, den du getragen hast. Ich bin nämlich Christus, dem du dienst.”
Nur eine Legende, verehrte Hörerinnen und Hörer, aber Legenden haben ihre eigene Wahrheit. Aus Opherus wird ein Christopherus - ein “Christus-Träger”, wie der Name übersetzt heißt: ein Mensch, der sich nicht zu schade ist, seine Schultern hinzuhalten, wenn er gebraucht wird. Er, der unbedingt im Dienst eines Großen, ja des Größten stehen will, findet so seinen Meister: Christus; aber eben nicht im Spektakulären, Gewaltigen, sondern im Kleinen, im Alltäglichen.
Opherus scheint, - so legt die Legende nahe - nicht sonderlich fromm oder gar frömmelnd gewesen zu sein, aber ein echter und aufrechter Kerl war er nach Kräften bereit, andere - im wahrsten Sinn des Wortes - durchzutragen. Es gab Zeiten, da wurde den Leuten gepredigt, man müsse die Menschen meiden, um Christus näher zu kommen. Und tatsächlich zogen damals viele Leute in die Wüsten und Einsamkeit der Berge. Aber schon Basilius, einer der großen geistlichen Lehrer des Christentums, hält dem entgegen: “wenn du allein bist, wem willst du da die Füße waschen? Wie willst Du da die Worte der Evangeliums leben? Wie willst du Christus nachfolgen, wenn du keinen Nächsten hast, den du lieben und dem du dienen kannst?”
Und Gelegenheit dazu besteht - weiß Gott - reichlich, auch heute: Wieviele gibt es, die ihre Last allein nicht mehr tragen können?! Wieviele, die unter der Schwere ihres Schicksals zu zerbrechen drohen?! Wer werden nicht alle Probleme lösen, nicht jeder Not abhelfen können. Aber andere in solchen Situationen und Lebensphasen dann nicht allein zu lassen, sondern ihnen beizustehen, an ihrer Last mitzutragen, sie im Gebet mitzutragen - das können wir.
Ich kann mir vorstellen, daß Christus auch heute Typen vom Schlage eines Christopherus braucht: Leute, die mit anpacken; die nicht nur ihr Eigenes sehen, das Gärtlein des privaten Glücks pflegen, sondern einen Blick für´s Ganze haben: da wo sie gebraucht werden.
An Opherus, verehrte Hörerinnen und Hörer, denke ich heute morgen, an alle, die Christoph heißen und heute Namenstag haben, und auch an solche, die anderen ihre Schultern hinhalten. Es könnte eine Chance sein, auch ein Christopherus, ein Christus-Träger, zu werden.
Das wünsche ich Ihnen und mir an diesem Tag. Sei es ein guten Tag!