75 Jahre Kommende in Dortmund „Andere Herausforderungen als zur Zeit von Stahl und Bier"
Zerrüttete Verhältnisse. Verspieltes Vertrauen.
„Es fällt uns schwer, zu vertrauen, weil wir durch so viel Verlogenheit verwundet sind.“ (DN 37) – Nein, das liest sich nicht als Analyse der US-Wahlen und findet sich auch nicht als politscher Kommentar zum Bruch der Ampelkoalition. Der Satz stammt aus der neuen Enzyklika „Dilexit nos“ von Papst Franziskus, der die Grundbefindlichkeit des heutigen Menschen in den Blick nimmt; aber er könnte auch eine Blaupause dessen sein, was wir momentan in den USA erleben – und auch bei uns.
Es stimmt: wir leben in einer verwundeten Gesellschaft, in der man einander – wie derzeit zu besichtigen - auf offener Bühne demütigt, diskreditiert, diffamiert. Das erinnert an manchen „Rosenkrieg“, an Szenen zerrütteter Ehen, die – wenn nicht als Traumhochzeit oder Liebesheirat, so doch als Zweckbündnis geschlossen – im Leben an der Wirklichkeit zerbrechen. Überzogene Erwartungen produzieren maßlose Enttäuschungen, und auf den Honeymoon folgt alsbald das böse Erwachen, wenn das Hochgefühl der Hoch-Zeit nicht eingetauscht wird in die kleine Münze gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme, auch da, wo man sich nicht versteht. Daher sollten Partner sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, was bei Trauungen oft vollmundig gepredigt wird: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.“ (1 Kor 13,4-8)
Was denen, die sich das JA-Wort geben, bleibende Mahnung ist, könnte doch auch Politiker:innen - erst recht, wenn sie miteinander koalieren – als Verhaltensregel für ein konstruktives Miteinander gelten. Es ginge schlicht um eine politische Kultur des Respekts, des Anstands, der Fairness, was ja im Übrigen auch von allen Bürgern in einem zivilisierten Land erwartet wird. „Es geht darum, zu einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu gelangen, deren Seele die gesellschaftliche Nächstenliebe ist“, so Papst Franziskus (FT 180) - ohne Kraftmeierei, Selbstprofilierung und Selbstinszenierung.
Wer so unprätentiös, aber seriös und konstruktiv versucht, seinen Beitrag für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander zu leisten, der kann dann auch gelassen und auch ausgelassen den Beginn der Karnevalssession feiern oder sich mit einer Laterne dem Martinszug anschließen. Der erinnert schließlich an jenen streitbaren Soldaten, der von seinem hohen Ross herunterstieg und mit dem Armen seinen Mantel teilte: praktizierte „gesellschaftliche Nächstenliebe“ im besten Sinne!
Haben wir verstanden?
„Wir haben verstanden!“ – Das war der Paukenschlag, mit dem die Vorsitzenden der Grünen nach einer Reihe verlorener Wahlen ihren Rücktritt eingeläutet haben. Neben allseitigen Respektbezeugungen herrscht allerdings weithin ein Gefühl lähmender Ratlosigkeit: dass es zwischen dem Wahlvolk und den um die Wählergunst buhlenden Parteien erhebliche Kommunikationsstörungen, ja kaum noch eine Verständnisgrundlage gibt. Da gehört zum Ritual am Wahlabend das halbherzige Schuldeingeständnis, man habe das Regierungshandeln eben „nicht genügend erklärt“. Die darin versteckte (vergiftete) Botschaft an die WählerInnen: Ihr habt nur nicht richtig „verstanden“, wie gut unsere Politik, wie gutgemeint unsere Absichten sind. - Eine dreiste Form der Hybris.
Doch wer was verstanden oder nicht verstanden hat oder nicht verstehen will …: das ist mehr als nur der Abgleich unterschiedlicher Positionen. Gelingende Kommunikation ist vor allem eine Frage der Haltung, des aufrichtigen und empathischen Verstehenwollens als ein Sich-Einlassen auf das Gegenüber. Das erfordert ein Ernstnehmen des jeweiligen Gesprächspartners und die Bereitschaft, sich auf einen Prozess einzulassen, dessen Ergebnis man nicht voraussehen und auch nicht vorwegnehmen kann. Dagegen ist die unausgesprochene Botschaft „Ich weiß schon, was für dich gut ist“ purer Paternalismus, und man darf sich nicht wundern, wenn andere diese Einstellung durchschauen und sich dagegen wehren.
Jene (kaschierte) Haltung des Besserwissens, was sich in Ritualen der großen Politik oft selbst entlarvt, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies auch in unserer Alltagskommunikation der Grund für so häufiges Miss-Verstehen ist. Denn es geht nicht darum, den anderen „mundtot“ zu machen. Entscheidend ist vielmehr eine wertschätzende Grundhaltung, das ehrliche Interesse am anderen, seinen Einsichten, Bedenken, Vorbehalten, ohne bereits im Hören die Gegenposition zu formulieren. Zugegeben, als Kirche haben wir oft gerade diese Einstellung vermissen lassen: überzeugt, im Besitz der Wahrheit zu sein, die dem anderen nur noch „beigebracht“ werden muss. Vielleicht ist das gerade der Dienst der Säkularität, die uns verstehen lässt, dass Wahrheit, Weisheit, Erkenntnis sich je neu ereignet, als ein Geschenk. Mit den Worten des früheren Bischofs Klaus Hemmerle: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“ Ein wahrhaft anspruchsvoller, aber ehrlicher Verständigungsprozess!
Die Mär vom Sommermärchen
Aus und vorbei! Sie haben alles gegeben, haben großartig gespielt - und am Ende unglücklich verloren, durch ein Last-Minute-Tor in der Nachspielzeit. Doch die Spieler der deutschen Mannschaft können mit erhobenem Haupt vom Platz gehen. Bei aller Trauer über das Ausscheiden schwingt auch Stolz mit, denn sie haben Charakter gezeigt und ihr Publikum begeistert. Und so spricht man am Ende bereits von einem neuen Anfang, und die Fans goutieren es.
Es hätte ein Sommermärchen sein sollen, den Menschen Glücksgefühle herbeizaubern und das krisengeschüttelte Land mit einem breiten Lächeln überziehen sollen. Manch einer mag sich nun enttäuscht abwenden und unmittelbar nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft in den Urlaub aufbrechen. Andere werden vielleicht ihre Deutschland-Fähnchen abmontieren und am weiteren Turnierverlauf das Interesse verlieren. Doch das muss nicht so sein, denn dass aus der Europameisterschaft ein Sommermärchen wird, liegt ja nicht nur an den Spielern auf dem Platz, sondern an uns allen, die wir uns von der bunten Vielfalt und dem Zusammentreffen begeisterter Fußballfans aus ganz Europa haben anstecken lassen. Was für eine ausgelassene Stimmung, wo die Fans in bunten Trikots ihre lauten Gesänge anstimmen und fröhlich miteinander feiern! Eine wunderbare Atmosphäre auf den Straßen und Plätzen, die sich auch auf andere überträgt, die mit Fußball eigentlich nichts am Hut haben.
Märchen, so die Definition, sind „im Volk überlieferte Erzählungen, in der übernatürliche Kräfte und Gestalten in das Leben der Menschen eingreifen (und meist am Ende die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden)“. Und solche Kräfte und Gestalten gab und gibt es ja auch in diesen Tagen, die einen nachhaltig positiven Eindruck hinterlassen haben. Bilder etwa von einem Fußballfan im Schottenrock, der einer alten Frau mit Rollator den Regenschirm hält, oder das Foto der aufgeräumten Kabine der rumänischen Mannschaft sich, die sich mit einem emotionalen Brief an die Gastgeber wendet, „dankbar für alles, was wir hier erlebt haben“ . Für sie war es, wie sie schreiben „eine Ehre, Teil der großen Familie des europäischen Fußballs zu sein.“
Das wäre doch etwas, das sich auch nach der Europameisterschaft noch fortsetzen könnte: eine positive Grundstimmung, „Teil der großen Familie“ zu sein und gelassen und großzügig über so manche Unvollkommenheit (selbst bei der Bahn!) hinwegzusehen. Beim Fußball kann es am Ende nur einen Sieger geben; aber an uns liegt es, aus diesem Fest ein Sommermärchen zu machen, an dem alle gewinnen. Einen Versuch wäre es wert.
Spielen mit den Schmuddelkindern?
Nun haben also selbst Marine Le Pen und Frankreichs Rechtsnationalisten die Schmuddelkinder der deutschen Parteienlandschaft entdeckt und rücken von ihnen ab. Das würde normalerweise einen Mitleidsreflex auslösen („arme AFD, keiner will mit dir spielen“). Doch die selbsternannte Alternative zu Zivilisation und Anstand hat sich derweil schon selbst in den Schmollwinkel zurückgezogen und zelebriert ihren Opferstatus als das ungeliebte Kind im politischen Parteienspektrum.
Mit dem geheimen Stolz eines „Underdogs“ lässt sich, wie man sieht, auch politisch durchaus Kapital schlagen, als vermeintliche Stimme der Entrechteten und Benachteiligten; als gäbe einem die Attitüde des Kümmerers das Recht, die „bessere Gesellschaft“ mit völkischen Parolen und nationalistischen Gedanken zu überziehen. Doch jene Agitation aus der Schmuddelecke der Politik steht gerade nicht im Dienst des Menschen; ihr geht es nicht um das Wohl von Bürgergeldempfängern und prekär Beschäftigten, von Armen und Alten, von Schutzsuchenden und Schutzbefohlenen, sondern um „Blut und Boden“. Die Ideologie des völkischen Nationalismus dachte „Volk“ als eine „Ethnie“, als Gemeinschaft von ethnisch und kulturell Gleichen oder Ähnlichen. Das in diesen Tagen zu Recht gefeierte Grundgesetz unserer freiheitlichen Demokratie versteht „Volk“ dagegen als „Demos“: „als Gemeinschaft der Gleichberechtigen, die auf der Grundlage der Menschen- und Bürgerrechte unsere Gesellschaft gemeinsam aufbauen und gestalten.“
Damit haben nicht zuletzt die katholischen Bischöfe deutlich gemacht, dass sich unser Grundgesetz dem christlichen Menschenbild verpflichtet weiß, dem Grundsatz der unantastbaren „Würde des Menschen“: jedes Menschen und aller Menschen - unhintergehbarer Maßstab für ein Leben in Würde und gesellschaftliches Zusammenleben in Freiheit und Gerechtigkeit. Gerade „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, so die Präambel des Grundgesetzes, ist alle staatliche Gewalt verpflichtet, die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ zu schützen (Art 1 GG). Für Christen bemisst sich der Wert und die Würde von Menschen nicht an Leistung, Erfolg, Geldbeutel, Schönheit, Cleverness. Das Evangelium handelt von der Würde der Leidenden, der Scheiternden, der Behinderten, der Kranken, der Sterbenden, der Armen, und es muss das tiefste Bedürfnis sein, jeden Menschen aus der „Schmuddelecke“ von Vernachlässigung, des Übersehen- und Übergangenwerdens herauszuholen „Demokratische Gesellschaften brauchen Religion, Despotien nicht.“ (Alexis de Tocquevilles)
Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit …
Tipp von einem guten Freund: Schau Dir in einem fremden Land einfach mal die Friedhöfe an, zum Beispiel den Borissowskoje-Friedhof in Moskau, wo Alexej Nawalny am letzten Freitag bestattet worden ist. „Wie die Menschen mit ihren Toten umgehen, sagt auch etwas darüber, wie sie es mit den Lebenden halten.“ Totengedenken - eine Frage des Respekts. Und wir, die Lebenden, werden daran gemessen, ob und wie wir den Verstorbenen ein ehrendes Andenken bewahren, auch über den Tod hinaus. Unter dieser Rücksicht ist das unwürdige Schauspiel, dass die russische Staatsgewalt aufgeführt hat, um die Herausgabe des Leichnams von Alexej Nawalny und die öffentliche Trauerfeier und Bestattung zu verhindern, ein beredtes Zeugnis ihrer zynischen Menschenverachtung.
Offensichtlich ist selbst der tote Nawalny den Regierenden immer noch gefährlich. Denn weltweit, nicht nur in Russland, man wird sich erinnern, wie er gelebt, was er getan, was er gesagt hat, etwa nach seiner Verurteilung vor dem Moskauer Stadtgericht am 20. Februar 2021: „Sagen Sie doch selbst, Euer Ehren – es gibt in Russland so einen politischen Slogan […] Und das ganze Land wiederholt es: Kraft liegt in Gerechtigkeit. Wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat, wird siegen.“ Was wenige wissen: Alexej Nawalny bezieht sich dabei auf die Bergpredigt, und er bezeichnet sich selbst als gläubigen Christen. Jemand habe ihm, wie Nawalny berichtet, ins Gefängnis geschrieben: „Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Und Nawalny darauf in seinem Schlusswort zu seinem Moskauer Richter: „Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden.“
Am letzten Freitag fand nun die Trauerfeier für Alexej Nawalny statt. Die Bestattung seines Leichnams nach kirchlich-orthodoxem Ritus war ein Statement. Die Machthaber dürften sich vermutlich die Ohren zugehalten haben. Doch auch wenn der Staatsapparat alles tut, um die orthodoxe Kirche gleichzuschalten und für seine Zwecke zu instrumentalisieren, werden die Worte seines schärfsten Kritikers nicht ungehört verhallen: „Wir sehen gleichzeitig auch, dass Millionen Menschen, zig Millionen Menschen Gerechtigkeit wollen. Sie wollen Gerechtigkeit, und früher oder später werden sie Gerechtigkeit bekommen. »Sie sollen satt werden.«“ – Mich erinnert das an Jesus, der den Mächtigen seiner Zeit prophezeite: wenn man seine Jünger zum Schweigen bringt, „werden die Steine reden.“ (Lk 19,40)
Wir sind das Volk!
Wir sind das Volk – nicht völkisch und nicht deutschtümelnd, sondern demokratisch, menschenfreundlich, weltoffen. Allein an diesem Wochenende waren überall im Land weit über hunderttausend Menschen auf den Straßen, um gegen rassistische und menschverachtende Ausgrenzung zu demonstrieren. Auch in Dortmund, wo der Demonstrationszug bei der Steinwache seinen Anfang nahm: dort, wo einst das berüchtigte Foltergefängnis der Gestapo war, in dem zigtausende ausländische Zwangsarbeiter und vermeintliche „Volksfeinde“ inhaftiert waren; viele von ihnen haben die Deportation in die Konzentrationslager nicht überlebt.
„Wir sind das Volk“ – mit diesem Sprechchor auf den Straßen in Leipzig, Dresden und anderswo hat schon einmal eine Wende begonnen: die Wende zum Guten, gegen ein menschenverachtendes Regime, für Freiheit und Einheit, für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist auch heute die Botschaft all derer, die (endlich) aufstehen gegen Fremdenfeindlichkeit und Aussiedlungsphantasien, gegen Hass und Hetze. Es braucht die Zivilcourage der „Aufrechten“, und es ist bemerkenswert, dass die schweigende Mehrheit im Land nicht mehr schweigt, sondern sich lautstark zurückmeldet: sich bekennt zu einer Gesellschaft, in der Menschen in Würde leben können, und zwar alle, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe, Sprache und Kultur. Denn der andere, jeder andere: „er ist wie du” - so hat der jüdische Philosoph Martin Buber das jahrtausendealte Gebot der Nächstenliebe übersetzt. Offenbar wissen wir Menschen schon von jeher, dass Rücksicht und Respekt die Voraussetzung für gelingendes menschliches Zusammenleben ist.
An uns liegt es, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und ob wir es zulassen, dass Volksverhetzer sich mit ihren gottlosen Parolen durchsetzen. Denn als Christen wissen wir, dass der Mensch, jeder Mensch, ein „Abbild Gottes“ ist, ausgestattet mit einer Würde, die unantastbar ist, wie unser Grundgesetz unmissverständlich festhält. Natürlich gibt es vieles, worüber man sich ärgern kann, worüber man streiten muss, aber das stellt nicht den Grundkonsens in Frage, wie ja gerade im Osten vor 25 Jahren immer wieder skandiert wurde: „Deutschland einig Vaterland“. Daran sollte man sich in diesen Tagen erinnern. Denn „wir sind das Volk“, und wir stehen für „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – und zwar für jeden, der hier lebt. Das ist unsere Hymne auf Gerechtigkeit, Frieden und gelebte Menschlichkeit. Das sollten wir uns nicht nehmen lassen!